Das Erinnern ist uns Österreichern nie besonders leicht gefallen. Und in Graz, der "Stadt der Volkserhebung", war es mitunter besonders schwer: Die Avantgarde-Veteranen aus dem "forum stadtpark", die dieser Tage ihr vierzigjähriges Bestehen feiern, haben preisgekrönte Lieder davon gesungen. Sie haben mit Grausen zur Kenntnis nehmen müssen, was hochkommt, wenn man dort umrührt, wo der Schmutz der eigenen Geschichte im Windschatten des Wiederaufbaumythos liegen geblieben ist und sich zu dem verdichtet hat, was man später so treffend als "Bodensatz" bezeichnen sollte. Dass am morgigen Donnerstag die Israelitische Kultusgemeinde in Graz das Bethaus wiederbekommt, das in der "Reichskristallnacht" des Jahres 1938, dem Beginn des Vernichtungsfeldzuges der Nazis gegen ihre jüdischen Mitbürger, niedergebrannt wurde, gibt in erster Linie Anlass zum Optimismus: Es ist also doch noch möglich, dass in einer österreichischen Stadt alle politischen Kräfte, auch die Freiheitlichen, gemeinsam, ohne jeden Unterton, einen Akt der tätigen Erinnerung setzen. Das Projekt "Synagoge neu" zeigt aber auch, dass mit dem Entschluss, sich der Vergangenheit zu stellen, neue Fragen auftauchen. Viele dieser Fragen wurden auch im Vorfeld der Grazer Synagogen-Eröffnung gestellt: O Warum erst jetzt? Eine Frage, die gegenwärtig nur durch demütiges Schweigen und künftig durch tätige Unterstützung zu beantworten ist. O Warum ein neues, großes Bethaus bauen für eine kleine, überaltete und stark säkularisierte Gemeinde? Eine Frage, die von vielen Gemeindemitgliedern gestellt wurde, die wissen, dass ein großes Bethaus angesichts der Zahl der Mitglieder und der religiösen Verfasstheit "keine Notwendigkeit" sei. Die Antwort des Gemeindepräsidenten Kurt David Brühl: Das sei ein Zeichen der Hoffnung, dass die Gemeinde größer, jünger und religiöser werden möge. O Hat die Stadt dieses Haus nicht eher für sich und ihr Gewissen gebaut als für die jüdische Gemeinde? - Vielleicht ja, aber was sollte denn der Antrieb für eine solche Geste sein, wenn nicht schlechtes Gewissen? Ariel Muzicant, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, hat seine Skepsis im Gespräch mit einer Grazer Journalistin besonders drastisch ausgedrückt: "Wenn die Synagoge ein reines Mahnmal und Denkmal ist, dann kommen wir uns vor wie ausgestopfte Juden." In Graz wären solche Formulierungen undenkbar: Noch ist das Klima der Erinnerung und des Gesprächs zu fragil, noch wollen die Mitglieder der Kultusgemeinde lieber keine Umstände machen - man habe die Wiedererrichtung der Synagoge nicht gefordert, betont Präsident Brühl -, noch überwiegt die Furcht, erneut einer feindseligen oder gar gewalttätigen Öffentlichkeit ausgesetzt zu werden. Für das gesellschaftliche Selbstbewusstsein, das nötig ist, um so sarkastisch zu formulieren wie Ariel Muzicant, ist es in Graz offensichtlich noch zu früh. Hier nun muss der zweite Teil des gesellschaftlichen Erinnerungswerks einsetzen: Wenn die Stadt Graz und das Land Steiermark das, was sie mit der Wiedererrichtung der Synagoge andeuten, ernst meinen, wenn es also nicht bei einem kühlen Monument des schlechten Gewissens bleiben, sondern dieses Bethaus mit Leben erfüllt werden soll, dann müssen ganz konkrete Maßnahmen ergriffen werden, um Graz für den Zuzug von jüdischen Mitbürgern attraktiv zu machen. Dass und wie das möglich ist, kann man überall auf der Welt sehen, nicht zuletzt auch in Wien. Eine solche Einladung wäre bei Gott kein Selbstzweck, wie es hoffentlich auch der Bau der Synagoge nicht ist: Denn auch in der Zeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung war nicht die Synagoge das wichtigste Zeichen jüdischer Präsenz in Graz, sondern der Umstand, dass es etwas gab, das es danach in Graz und auch in anderen Städten des Landes nicht mehr gegeben hat: etwas, das man "Bürgertum" nannte. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8.11.2000)