STANDARD: Sie beschäftigen sich mit der Frage, was passiert, wenn Schuld verdrängt wird. Neuere deutsche Debatten - etwa die zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis, dieser Tage wieder aufgenommen von Salomon Korn - drehen sich um die Frage, ob nicht auch die ritualisierte Erinnerung an Schuld zum Problem werden kann. Gesine Schwan: Da hat Walser ja Recht: Wenn das nur ritualisiert wird und der einzelne Mensch daran nicht beteiligt ist, hat das keinen positiven Effekt. Dennoch: Selbst beim Ritus müsste man überlegen, ob er eo ipso etwas Schlechtes ist oder ob er nicht Anlass für eine echte intensive Auseinandersetzung sein kann. Wenn zum Beispiel in der katholischen Messe gesagt wird "durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld", werde ich bei aller Ambivalenz immerhin rituell daran erinnert, eine Bilanz zu ziehen von dem, was ich getan und was ich unterlassen habe. STANDARD: Zugleich ist eine solche Ritualisierung immer auch ein Rückschritt in der "Entwicklungsgeschichte der Schuld": von der persönlichen Reflexionsebene auf eine Art Erbsündenlehre. Schwan: Eine Erbsündenlehre oder das, was Jaspers "metaphysische Schuld" nennt, ist durchaus etwas Wichtiges. Es kann aber auch dazu dienen, die persönliche Prüfung wegzuschieben. Ich denke, die Leistung der Erbsündenlehre besteht darin, eine Erklärung dafür zu suchen, dass Menschen nicht bei null anfangen, sondern immer schon mit Schuldbelastungen antreten, für die sie nicht persönlich verantwortlich sind. STANDARD: Wir haben es also mit der Umkehrung eines Problems zu tun: Früher ging es darum, den Menschen klar zu machen, dass sie ihre persönliche Schuld nicht abschieben können auf einen größeren Zusammenhang. Heute müssen wir ihnen klar machen, dass etwas, wofür sie persönlich nicht verantwortlich sind oder waren, dennoch etwas mit ihnen zu tun hat. Schwan: Ich denke, man muss unterscheiden zwischen der analytischen Frage, was an echter Schuld vorhanden ist, und der psychologischen Frage, was es mit der Tradierung von Schuldgefühlen auf sich hat. Diejenigen, die nach 1945 erst Erwachsene waren, können nicht im objektiven Sinn schuld sein für den Nationalsozialismus. Sie können aber subjektiv Schuldgefühle für etwas haben, das Eltern getan haben. Das Vertrackte ist nun, dass solche Schuldgefühle auch wieder Wirklichkeitsverzerrungen mit sich bringen können, die dann zu erneuter Schuld führen. Und dann kann man sich natürlich fragen: Ist so eine übernommene Verzerrung von Wirklichkeit in der eigenen Verantwortung dieser nächsten Generation oder haben die das unbewusst mitbekommen und können also gar nichts dafür? STANDARD: Damit wären wir dann aber am Ausgangspunkt angekommen, der griechischen Mythologie: Der Mensch ist den Schicksalsgöttinnen ausgeliefert. Schwan: Jaspers verweist darauf, dass wir uns auch fragen müssen, warum wir bestimmte Dinge nicht gesehen haben. Ein Beispiel dafür war die 68er-Generation, die aus meiner Sicht in Deutschland eine ganz klare demokratische Reform vorangebracht hat: Da gab es das Problem des Anti-Antikommunismus. Die 68er waren der Meinung, der Antikommunismus sei schon per se genau so schlimm wie der Antisemitismus. Denn sie hatten den Antikommunismus bei ihrer Elterngeneration nicht in einer liberalen, sondern in einer antisemitischen, antislawischen Version kennen gelernt. Aus dieser Fixiertheit auf den undemokratischen Antikommunismus der Eltern haben sie sich nicht mehr auseinander gesetzt mit dem Üblen, das im Kommunismus passierte. STANDARD: Ist in der Walser-Bubis-Debatte etwas Ähnliches passiert? Schwan: Meiner Einschätzung nach ist Walser noch immer so in der Schuldfixierung seiner Eltern, aber auch seiner selbst - er war ja bei Kriegsende nicht mehr ganz jung - verhaftet, dass er völlig unsensibel geworden ist für das, was er bei den Opfern auslöst. Er ist so absorbiert von der Täterproblematik, dass er nicht sieht, was er mit seiner Sache bei den Opfern anrichtet. Es gibt einzelne Sätze bei Walser, die man unterschreiben kann. Aber den Grundduktus halte ich für sehr abträglich für unsere politische Kultur, weil er ganz mühelos die legitimiert, die es sich aus viel weniger komplizierten Überlegungen als Walser einfach machen wollen. Das ist eine narzisstische Täterfixierung in der zweiten Generation, die auch wieder schuldhafte Folgen hat. STANDARD: Dass es heute auch sehr billige politische Instrumentalisierungen der Schuldfrage gibt, stimmt aber doch. Schwan: Walser bleibt aber sehr diffus in seiner Anklage: Geht es ihm wirklich darum, den falschen Umgang mit Schuld abzuschaffen, oder darum, sich nun endlich von der Last zu befreien, die ihn so lange gedrückt hat? STANDARD: Auch in Österreich haben wir gegenwärtig eine politische Schuld-Debatte. Sie dreht sich um die Frage, ob Österreich im Nationalsozialismus Täter oder Opfer war. Wo sehen Sie den Unterschied zwischen der Debatte in Österreich und in Deutschland? Schwan: Österreich hatte die Chance, sich der Verantwortung zu entziehen, weil man sich so lange die Lebenslüge vormachen konnte, dass man das erste Opfer war, das konnten die Deutschen ja nicht sagen. Und immer wenn TäterInnen sich vornehmlich als Opfer deklarieren, werde ich sehr skeptisch. Sie können das im Individuellen wie im Politischen immer wieder finden: Wer sich in erster Linie als Opfer, als Ergebnis von Umständen darstellt, ist in der Regel nicht bereit, zur eigenen Verantwortung zu stehen. STANDARD: Solche Bestimm-Haltungen werden oft - eben auch bei Walser - als Reaktionen auf zumindest in Teilen ungerechte Vorhaltungen interpretiert. Das erscheint doch durchaus plausibel. Schwan: Nein, wer mit sich wirklich gründlich ins Gericht gegangen ist, der ist nicht mehr verletzbar oder kränkbar durch falsche Vorwürfe. Den geht das nichts mehr an, der kann das auch in aller Ruhe abwehren, weil er innere Souveränität gewonnen hat. Dass man mit Schuldvorwürfen manipulieren kann, das weiß ich wohl, und ich finde es auch schlimm, auch wenn Opfer oder Kinder von Opfern es tun. Aber wer das als Bedrohung empfindet, hat seine Selbstprüfung noch nicht abgeschlossen. Gesine Schwan ist Politologin und seit 1999 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehört "Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens" (1997). Frau Schwan ist seit 1996, wie schon von 1977-1984, Mitglied der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD. Am Dienstag sprach sie im Rahmen der "Tuesday Lectures" im Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 23.11.2000)