Christine Velan

Am 30. November 1900 starb Oscar Wilde im Alter von 46 Jahren in einer schäbigen Pariser Familienpension. Dieses ,Hôtel d'Alsace' der Rue des Beaux-Arts Nr. 13, das zu Wildes Zeiten der Kategorie 10 angehörte und heute schlicht ,L'hôtel' heißt, wird seit Monaten nach Entwürfen des renommierten französischen Innenarchitekten Jacques Garcia instand gesetzt. Oscar Wildes letzte Wohnstätte, schon in den sechziger Jahren zu vier Sternen aufgestiegen, wird ganz im neoklassizistischen Stil renoviert: Mit griechischen Medaillons und Ornamenten werden Decken und Wände verziert, Säulenaufsätze vergoldet und Stucksäulen marmorisiert. Um Wildes Zimmer Nr. 16 auszustatten, ließ man sich von seinem Londoner Haus inspirieren, ein Fresko mit Pfauenmotiv soll das einstmals äußerst bescheidene Hotelzimmer schmücken.

Der Verfechter eines radikalen Ästhetizismus - nach seinem Studium in Oxford ernannte Oscar Wilde sich selbst zum ,Professor der Ästhetik' - hätte seine Freude daran. Das aufwendige Dekor lässt sein tristes Lebensende, das er krank, verarmt und gebrochen im fast dreijährigen Pariser Exil verbrachte, vergessen. Vielmehr erinnert es an jene ruhmreichen Jahre vor der gerichtlichen Verurteilung als Homosexueller, in denen England ihm wegen seiner Bonmots an den Lippen hing und wegen seiner Theaterstücke zu Füßen lag.

Der aus Dublin stammende Wilde stand in einem widersprüchlichem Verhältnis zur viktorianischen Gesellschaft. Einerseits verehrte er ihre obersten Kreise und bemühte sich als Meister der Konversation von ihnen anerkannt und aufgenommen zu werden. "Um heutzutage in die beste Gesellschaft zu gelangen, muss man die Leute entweder füttern, belustigen oder schockieren - das ist alles." Andererseits verspottete und verachtete er wie kein anderer ihre von einer Moral der Strenge geprägten Wertigkeiten. In einem aus Impertinenz und Geisteswitz gemischten Ton hielt Wilde philisterhaften Zeitgenossen den Spiegel vor, ohne dabei seinen Hang zur Exzentrik, seine kunstvolle Selbstinszenierung zu vernachlässigen.

Schon während des Studiums, zunächst am Dubliner Trinity College, später in Oxford, war ihm eine abfällige, arrogante Haltung zu eigen. Ohne Rechnungen unmittelbar zu begleichen, kaufte der junge Dandy venezianische Weißweingläser, rubinrote Champagnerkelche. Zur Vermeidung von Knarren und Krach trug er seinem Diener auf, Filzpantoffeln zu tragen und Korken im Nebenzimmer zu ziehen. Ließ sich der Snob herab, zu lernen und Professoren nicht zu provozieren, bestand er Prüfungen brillant. Sein Abschlußexamen zum ,Bachelor of Arts' (1878) legte er mit Auszeichnung ab.

Während einer einjährigen Vortragsreise durch die USA (1882) pries er als Redner, Kunstkritiker und Ästhet die Schönheit als beständigen Wert. Nicht die Bedeutung, sondern die ästhetische Wirkung eines Kunstwerks sei - ganz im Sinne des Malers James McNeill Whistler - wesentlich. Wildes gesellschaftlicher Ruhm stellte sich schneller ein als der literarische Durchbruch mit seinen sinnlich-schwülen Gedichten.

Auch wenn Edmond de Goncourt ihn als "Individuum zweifelhaften Geschlechts" bezeichnete, (Anlaß dazu mag seine einer Büste im Louvre entlehnte Nerofrisur gewesen sein,) verliebte Oscar Wilde sich zu dieser Zeit noch in Frauen. Florence Balcome verließ ihn wegen des ,Dracula'-Autors Bram Stoker und Wilde heiratete später Constance Lloyd.

Erst nach der Geburt von zwei Söhnen, Cyril und Vyvyan, begann der 32-Jährige, seinen homoerotischen Neigungen nachzugehen. Neben länger anhaltenden Liebesaffären durchlebte er wahllose, flüchtige Liaisons mit dubiosen, jungen Männern, deren Diskretion reine Glückssache war. Die Halbwelt von sich prostituierenden Jungen und deren Nähe zum Verbrechen zogen ihn an. Mit Nietzsche und Blake teilte er die Ansicht, dass Gut und Böse nicht das seien, was sie zu sein schienen. Moralische Tabus könnten der Komplexität des menschlichen Verhaltens nicht gerecht werden. Allen Warnungen zum Trotz reagierte Wilde auf erste Erpressungen mit lächelnder Sorglosigkeit.

Der Roman ,The Picture of Dorian Gray' über einen nach ewiger Jugend strebenden bildschönen Jüngling leitete 1890 Wildes fruchtbarste Schaffensphase ein. Ein Jahr später traf er im 17 Jahre jüngeren Lord Alfred Douglas auf die Verkörperung seiner Romanfigur, was Wildes Theorie untermauerte, dass Kunst das Leben inspiriere und nicht umgekehrt. George Bernard Shaw beschrieb den launischen Oxfordstudenten "Bosie", der zu Wildes Niedergang führen sollte, als "blumengleiche Schönheit." "Er liegt wie eine Hyazinthe auf dem Sofa und ich bete ihn an," schwärmte Wilde. Er war von seiner äußeren Erscheinung ebenso fasziniert wie von der Tatsache, einen Adligen zum Geliebten zu haben.

Heftige Streitereien, dramatische Trennungen und sentimentale Versöhnungen prägten die Beziehung. Der temperamentvolle Liebhaber führte einen persönlichen Krieg gegen seinen Vater, den Marquess of Queensberry, und benützte Wilde als Waffe. Der Streit zwischen Vater und Sohn gipfelte darin, dass der Marquess Wilde eine Karte im Club hinterließ, auf der er ihn der ,Sodomie' bezichtigte. Wilde befand sich als Dramatiker gerade auf der Höhe seines Ruhms: Am 3. Januar 1895 war ,An Ideal Husband', am 14. Februar ,The Importance of Being Earnest' uraufgeführt worden.

Am 1. März leitete er fatalerweise einen Verleumdungsprozeß gegen den Marquess ein, dessen Opfer er selbst wurde. Bis zuletzt glaubte er nicht an eine Verurteilung und ließ jede Möglichkeit zur Flucht, die man ihm nach dem Freispruch Queensberrys durch eine verzögerte Verhaftung eingeräumt hatte, ungenutzt.

Nach einem entwürdigenden Prozeß, in dem man Wildes Kontakte zu Strichjungen offenlegte, verurteilte man ihn am 25. Mai 1895 zu zwei Jahren Freiheitsentzug und Zwangsarbeit. "Wie jeder, der körperliche Arbeit nicht gewohnt ist und diese Art Strafe verbüßen muß, wird er keine zwei Jahre mehr leben," soll sich der Gefängnisdirektor über Wilde geäußert haben. Primitive Haftbedingungen sowie unzureichende Ernährung schädigten seine Gesundheit langfristig. Am Ende der Haftzeit schrieb er auf Gefängnispapier in Briefform ,De Profundis', eine Rechtfertigung seiner selbst, vor allem aber eine Abrechnung mit Alfred Douglas.

Vor der Entlassung ließ Wilde sich für eine neue Garderobe in der baldigen Freiheit Maß nehmen. Freunde erledigten in seinem Auftrag detaillierte Bestellungen: einen braunen Hut, 24 weiße und 12 farbige Taschentücher, dunkelblaue Krawatten mit weißen Punkten, 8 Paar Socken - farbige für den Sommer -, einige Handschuhe, französische Seife, Duftwasser - vorzugsweise Canterbury Wood Violet - und ein Haartonikum namens ,Koko'.

Nach Beendigung seiner Haftstrafe (Mai 1897) versuchte der Protestant Wilde, der den römisch-katholischen Glauben für den "romantischsten" hielt, vergeblich, für sechs Monate in einem Jesuitenkloster aufgenommen zu werden. Daraufhin verließ er mit Freunden England, wohin er nie wieder zurückkehren sollte. Er reiste an die Nordküste Frankreichs und mietete sich zunächst in Dieppe, später in Berneval-sur-Mer ein.

Der Wunsch, seine Frau, deren Zuneigung zu Wilde bis zuletzt ungebrochen blieb, wieder zu sehen, erfüllte sich nicht. Constance zögerte ein Treffen so lange hinaus, bis sie 1898 im Alter von 40 Jahren an den Folgen einer Rückenoperation starb. Die von ihr zugesicherte Rente erhielt er nur unter der Bedingung, Lord Douglas nie wieder zu begegnen. Anfänglichen Vorsätzen zum Trotz nahm Wilde die Beziehung sehr bald wieder auf. "Natürlich liebe ich ihn wie eh und je, und ich spüre das Tragische und Verderbliche daran." "Mein Leben lässt sich nicht wieder zusammenflicken."

Das Liebesverhältnis dauerte nicht an und fand ein jähes Ende, als Douglas, Wildes Bitten nach Geld brüsk abschlug und ihm vorwarf, er buhle wie eine alte Dirne.

Von nun an reiste Wilde, auf Einladungen wohlhabender Freunde angewiesen, ruhelos auf dem Kontinent umher: durch Frankreich, Italien und die Schweiz. Er glaubte nicht, dass er je wieder schreiben würde. "In mir ist etwas getötet worden. Ich habe kein Verlangen zu schreiben. Ich spüre keine Kraft mehr. Natürlich hat mich das erste Jahr im Gefängnis an Körper und Seele zerstört." Die nach seiner Gefängnisentlassung entstandene "Ballad of Reading Gaol" sollte die letzte literarische Leistung Wildes sein. Dem Text lag eine wahre Begebenheit seiner Gefängniszeit, die Exekution eines Soldaten durch den Strang, zugrunde. Wilde trat in ihr entschieden für Gefängnisreformen ein. Von seiner bisherigen ,L'art pour l'art'-Auffassung, Kunst stände über der Realität und Schönheit sei wichtiger als Moral, war er vollkommen abgekommen.

Gegenüber Maurice Maeterlinck behauptete er, die Grausamkeit einer Gefängnisstrafe beginne erst mit der Freilassung. Frühere Freunde schnitten ihn, und Fremde, die ihn erkannten, äußerten nicht selten abfällige Bemerkungen. Die einen mieden ihn wegen seiner Bitten um Geld, die anderen wegen seiner Homosexualität. Als er in den Pariser Straßen die Opernsängerin Nellie Melba traf, trat er ihr entgegen: "Ich werde etwas Furchtbares tun. Ich werde Sie um Geld bitten." Die alte Bekannte aus London gab ihm den Inhalt ihrer Geldbörse.

Wilde litt ebenso unter Vereinsamung wie unter der finanziellen Misere. "Wie der liebe Sankt Franziskus von Assisi bin ich der Armut vermählt: Aber in meinem Fall ist diese Ehe kein Erfolg; ich hasse die Braut, die mir angetraut wurde." Trost suchte er in Brandy und Absinth. Er hätte durchaus vom monatlich 150-Pfund-Zuschuss aus dem Erbe seiner Frau leben können, doch Wildes Charakter mit Hang zu Luxus und Extravaganz wollte es nicht gelingen, die Lebensweise äußeren Zwängen und Einschränkungen unterzuordnen. Da er kein Geld hatte, sich einen Zahnersatz anfertigen zu lassen, war das Fehlen seiner Schneidezähne sichtbar.

Als Wilde ernsthaft erkrankte, stellte er mit dem ihm eigenen Humor fest, er könne es sich nicht leisten zu sterben. Im Sommer 1899 traten zunächst juckende Ausschläge auf, später kam eine Mittelohrentzündug mit Abszess hinzu, die wiederum eine Meningitis auslöste. Die meisten Biographen Wildes gehen davon aus, dass er an den Folgeerscheinungen einer Syphilis im dritten Stadium litt, die er sich mit zwanzig zugezogen hatte. Gegenüber Freunden, die ihn pflegten, bemerkte er: "Meine Tapete und ich fechten gerade ein Duell auf Leben und Tod aus. Einer von uns muss verschwinden."

Nachdem Morphiumspritzen, die der Hotelbesitzer Dupoirier ihm gab, nichts mehr bewirkten, führten lediglich Chloral und Opium zu einer Linderung. Oscar Wilde trank viel Champagner, bevor er ins Delirium fiel und schließlich starb. Robert Ross, der nach einer mehrjährigen Liebesaffäre stets ein Freund geblieben war, erfüllte ihm den Wunsch, von einem Priester die Nottaufe und letzte Ölung zu erhalten. "Der Katholizismus ist der einzige Glaube in dem man sterben kann." Dupoirier wusch Wilde, legte ihm einen Rosenkranz in die Hände und Palmenzweige auf die Brust.

Am Friedhof Père Lachaise in Paris fand Wilde seine letzte Ruhe. Das Grab schmückt eine mehr als mannshohe Skulptur des englischen Bildhauers Jacob Epstein, die im napoleonisch-ägyptisierenden Stil einen Boten darstellt, der mit seinen riesigen Flügeln fortzufliegen scheint. Sockel und Beine der männlichen Gestalt sind mit unzähligen Lippenstiftküssen versehen. Ein Schild ermahnt: "Respektieren Sie die Erinnerung an Oscar Wilde und verunstalten Sie nicht dieses Grab. Durch Gesetz ist es als historisches Denkmal geschützt."

Das Geschlecht der steinernen Figur fehlt. Prüde, amerikanische Touristinnen - so die Friedhofslegende - sollen sich an ihm gestört und es abgebrochen haben. Unwillkürlich muss man an eines von Wildes Aphorismen denken: Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung.


Christine Velan lebt als Autorin u. Journalistin in Paris und Wien; sie veröffentlichte zuletzt "Monsieur Cafard" im Thomas Sessler Verlag Wien.

Die Werke von Oscar Wilde sind neu übersetzt worden und in fünf Bänden bei Haffmans 1999 erschienen ("Zürcher Ausgabe").

Ebenfalls bei Haffmans: Barbara Belford, Oscar Wilde. Ein paradoxes Genie. öS 431,-/511 Seiten, Zürich 2000.

Weitere wichtige Biografien: Richard Ellmann, Oscar Wilde. Eine Biografie. Aus dem Amerikanischen von Hans Wolf. öS 336,-/868 Seiten. Piper, München 2000.

Norbert Kohl, Oscar Wilde. Leben und Werk. öS 350,-/343 Seiten. Insel, Frankfurt/Main 2000.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. 11. 2000)