The man who found himself alone in London (Bill Brandt, Picture Post, 18 January 1947): Er fährt in den nassen Nebel, nichts kommt ihm entgegen. Es sieht auch nicht so aus, als erwarte er etwas dergleichen. Er behält den Hut auf wie Stan Laurel und Oliver Hardy in ihren zahllosen Filmen. Der Mann hat keine Eile, nicht einmal der Mond über ihm ist viel versprechend. Auch am 18. Januar 1947 fuhr man in London - wenn nichts anderem - so doch einer Tasse heißem Tee entgegen, mit dünner Milch und nicht immer "nice and warming". Seine Fahrweise wirkt stoisch. Larmoyanz wäre auch bei aufblitzenden Scheinwerfern kaum zu entdecken. Selbst Scotland Yard fände sie nicht.
Foto: Brandt
Und was findet er? Nicht mehr als seinen Tee und sich selbst. Er scheint ohne allzu großes Entzücken damit zufrieden, strebt sich nicht entgegen und weicht sich nicht aus. Karrieresorgen scheint er keine zu haben. Er findet sich vor ("Nicht immer einfach, sich vorzufinden", hörte ich einmal an einem Nebentisch), und er findet sich allein vor. Und obwohl er nicht auf der Suche danach war, hat er doch nichts dagegen. Den Wunsch nach Selbstverwirklichung - ein absurder Ausdruck, der nur "Selbst" meint, die eigene Person - lässt er aus. Er wird vermutlich bei dem lauwarmen britischen Tee und der gesunden britischen Luft noch eine Weile mit seinem Bad, seiner Landlady, den Nachbarn unterwegs sein, er wird sich nicht stören lassen. Weder von feuchten Wänden noch von wenig verheißungsvollen Ausblicken auf die eigene Existenz. Große Erwartungen hat er keine. Was könnte ihn an jedem Augenblick, dem er entgegenfährt, überraschen? Auch der Februar und der März 1947 werden vermutlich frostig sein. Und der britische Sommer bringt Kopf und Herz auch nicht in Aufruhr. Just a line to let Die vielleicht in England nicht ganz so verachteten Fünfziger- und nicht ganz so hoffnungsvollen Sechzigerjahre hat er noch vor sich. Aber er nähme auch ein neues Jahrtausend in Kauf. Der Preis sollte nicht zu hoch sein, er sieht weder nach großen Ersparnissen noch nach physischen Reserven aus. Wenig Spektakuläres. Die Evening Post ohne zu große Neugier. Nichts Gigantisches, und nicht einmal ein Tag am Fluss. "Just a line to let", könnte es zuletzt bei ihm heißen. Wohin mit dem Mann, der sich selbst allein in London fand? Man kann ihn bei sich selbst lassen. Er ist dort ebenso gut aufgehoben wie in dem Band von Bill Brandt auf Seite 129. "Prosit Neujahr" sagte und sagt in London ohnehin keiner, er noch weniger. Sollte die Skepsis gegenüber der Neuigkeit der Jahre anhalten, so könnte die Chance zunehmen, dass endlich ein neues Jahr kommt. Spätestens am 18. Jänner. (DER STANDARD, PRINT-AUSGABE, 29. 12. 2000)