Ola Lewicka ist Sekretärin, spricht Deutsch und Englisch - und studiert am Abend für ihr Traumziel: eine eigene psychotherapeutische Praxis. Die junge Polin erzählt Standard-Korrespondentin Gabriele Lesser in Warschau von ihren Plänen. "Psychologen müssen eine starke Persönlichkeit haben, sonst können sie anderen Menschen nicht helfen", ist Ola Lewicka überzeugt. Seit Oktober studiert die Zwanzigjährige am Psychologischen Institut der Universität Warschau. "Ich habe den Eindruck, dass die Leute um mich herum immer mehr Probleme mit ihrem Leben haben. Wenn sie ihre Arbeit verlieren, fangen sie an zu trinken, lassen sich scheiden und verlieren völlig den Boden unter den Füßen, und umgekehrt - wenn sie eine richtig gute Arbeit gefunden haben, dann arbeiten sie plötzlich nur noch, vergessen Familie und Freunde. Am Ende sind sie einsam und wissen gar nicht, was sie falsch gemacht haben." Ola hat im Sommer einen der begehrten Studienplätze am Warschauer Institut für Psychologie erobert. Zehn KandidatInnen bewarben sich auf einen Platz, insgesamt gibt es 200 - die eine Hälfte ist für VollzeitstudentInnen reserviert, die andere Hälfte für AbendstudentInnen. Diese sind meist älter und gehen tagsüber einer Arbeit nach. Anders als VollzeitstudentInnen müssen sie für das Studium bezahlen. Das erste Semester Psychologie kostet zurzeit rund 600 Zloty im Monat, die Hälfte eines durchschnittlichen Monatslohns in Polen, umgerechnet rund 2100 Schilling. Ola hat sich trotz der hohen Kosten für das Abendstudium entschieden. "Meine Schwester studiert bereits Tiermedizin, und unser Familienbudget würde einfach eine zweite Studentin nicht verkraften." Sie setzt eine entschlossene Miene auf und lächelt: "Ich weiß aber, was ich will, und so arbeite ich eben." Psychotherapeutin will Ola werden. Eine eigene Praxis in einer der besseren Gegenden Warschaus ist das große Ziel. Wer dann genau zu ihren Klienten gehören soll, weiß sie noch nicht. "Leute mit Problemen", vermutet sie, "in jedem Fall Erwachsene, vielleicht solche mit Essstörungen oder solche, die vor lauter Geldverdienen den Sinn des Lebens verloren haben." Für Ola gehört zum Lebensglück auch eine Familie. "Aber ein Mann findet sich schon noch", lacht sie. "So eilig ist es mir auch nicht mit der Familie." Geldverdienen Um das Geld für das Studium zusammenzubekommen, für die Bücher, für ein bisschen Taschengeld und einen Urlaub ab und an, arbeitet Ola tagsüber als Sekretärin. "Da habe ich viel mit Menschen zu tun. Ich muss für meine Chefin vor allem telefonieren, Informationen einholen, aber auch Anrufe entgegennehmen - oft in Deutsch oder Englisch. Das ist ein gutes Training für später. Da muss ich ja auch vor allem mit den Leuten reden." In drei, vier Jahren, wenn sie im Studium schon weiter ist, will sie versuchen, eine Aushilfsstelle in einer psychologischen Beratungsstelle zu bekommen oder in den Semesterferien in einem Sanatorium für psychisch Kranke arbeiten. Allerdings hängt eine solche Stelle immer auch von der Bezahlung ab. Unter 1000 Zloty (rund 3500 Schilling) würde sie keine Arbeit mehr annehmen. So viel verdient sie zurzeit als Halbtagssekretärin in einem ausländischen Unternehmen. Für viele junge Frauen in Polen bedeutet genau diese Einstiegsschwelle zum späteren Beruf das vorzeitige Ende der Karriere. Statt im erträumten Beruf zu arbeiten, qualifizieren sie sich über viele Studienjahre hinweg in einem "Job", der eigentlich nur zum Geldverdienen gedacht war. Am Ende des Studiums stehen sie dann vor der schwierigen Entscheidung, ob sie eine schlecht bezahlte Anfangsstelle im erlernten Beruf annehmen sollen oder doch besser den gut bezahlten Sekretärinnenjob behalten. "Mehr kämpfen" Ola ist sich dieser Gefahr bewusst. Doch sie sagt: "Ich will ja nicht Karriere in einem Krankenhaus machen, ich will eine eigene Praxis haben." Anders als ihre Eltern, die beide Medizin studiert hatten und noch in der Zeit der Volksrepublik Polen einem Krankenhaus zugeteilt wurden, habe sie heute die Wahl. "Was meine Generation von der meiner Eltern unterscheidet, ist die andere Perspektive. Es gibt keine Zensur mehr, die Grenzen sind offen, alles hängt von uns ab. Wir müssen mehr kämpfen als sie. Aber es gibt auch mehr zu gewinnen. Und ich habe fest vor zu gewinnen." (D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 02.01. 2001)