Geht es hierzulande in der öffentlichen Diskussion um die Osterweiterung der EU, dann scheinen sich alle Sorgen um das Grenzland zu drehen. Von Migrationswellen und Pendlerfluten aus den Beitrittsländern geht die Rede, welche die lokalen Arbeitsmärkte unterminieren und das Lohnniveau nach unten treiben würden. Die Gefahr massenhafter Absiedlungen von Produktionen wird beschworen, weil das Kapital den billigeren Arbeitskräften jenseits der Grenze entgegengeht.

Insgesamt, so das triste Resümee, würde dies einen enormen Anpassungsschock bedeuten, dem die nach Jahrzehnten im Schatten der Geschichte strukturell ausgezehrten Grenzregionen nicht gewachsen wären. Nach Hilfe für das Grenzland wird da gerufen, monetär und nicht zu knapp und am besten aus den Füllhörnern der EU. Und bis sich die Hilfe materialisiert, muss es Schutz geben, in Form von restriktiven Übergangsregeln, die die Grenzen nach Osten noch für eine gute Weile dicht halten.

All dies klingt mittlerweile bekannt in den Ohren. Wie erinnerlich, stammen ja viele dieser Argumente schon aus der Zeit, als der Eiserne Vorhang fiel. Doch die Erfahrung seither lehrt, dass all die Ängste und Sorgen von der Realität nicht bestätigt wurden. Die Normalisierung an den Ostgrenzen brachte nicht die beschworenen Strukturbrüche, im Gegenteil: Die Beschäftigung im Grenzland entwickelte sich beständig und überdurchschnittlich dynamisch. Die von jenseits der Grenze hereinströmenden Arbeitskräfte verursachten keinen radikalen Verdrängungsprozess, im Gegenteil: Wo heute der Ausländeranteil am höchsten ist, liegt die Arbeitslosenrate zumeist am tiefsten. Und das zusätzliche Arbeitskräfteangebot setzte die Löhne nicht unter Druck, im Gegenteil: Die durchschnittlichen Bruttoeinkommen stiegen in den Grenzregionen zumeist stärker als im österreichischen Durchschnitt.

Dass dies nach der EU-Osterweiterung so anders aussehen sollte, ist nicht plausibel. Die viel beschworene Pendlerflut nach Öffnung der Grenzen steht bisher nur auf dem Papier diverser Studien. Wer sich die Realitäten ansieht, erkennt, dass sie sich nur in engen geographischen Grenzen abspielen kann und viel eher städtische Ballungszentren im Hinterland als die Grenzregionen selbst betreffen wird.

Was also ist dran am Hohen Lied von der Sorge um das Grenzland? Der Verdacht liegt nahe, dass es dabei gar nicht um das reale Grenzland geht, sondern um das Grenzland als Metapher. Es wird zu dem virtuellen Ort, wo sich alle Ressentiments, Vorurteile und Xenophobien versammeln lassen, camoufliert unter dem Deckmantel eines soziale Solidarität mit dem "kleinen Mann an der Grenze" heuchelnden Nationalismus.

Die Grenzländer geraten damit unverhofft in die Geiselhaft der Stammtische. Dass dieses Spiel von jenen politischen Kräften, die dort schon immer ihren Stammplatz hatten, betrieben wird, verwundert nicht. Dass die heimischen Arbeitnehmervertreter da auch mitmachen, eher schon.(Johannes Steiner, Der Standard, 15.01.2001)