Nicht ausschließlich von einer Kunst-, sondern von einer Wissensproduktion spricht der New Yorker Theoretiker Okwui Enwezor, wenn es um "seine" "Documenta11", geht. Doris Krumpl und Markus Mittringer trafen den "Erweiterer" des "Documenta"-Begriffs im Vorfeld der Wiener "Plattform 1". Wien - Okwui Enwezor, gebürtiger Nigerianer mit Wohnsitzen in New York, Chicago, London und nunmehr auch Kassel, kommt nach eigenen Worten "aus einer Tradition, in der Ästhetik nicht getrennt von Politik oder Ökonomie stehen kann". Enwezor hat in New York Politische Wissenschaft studiert. 1997 organisierte er die Biennale von Johannesburg. Zurzeit bereitet Enwezor ein Buch über Künstler der 90erJahre vor ( Structural Adjustments ). Am 14. Februar eröffnet die Münchner Villa Stuck Enwezors Ausstellung über die Unabhängigkeits- und Befreiungsbestrebungen in Afrika von 1945 bis 1994 ( The Short Century ). STANDARD: Vermittelt die Münchner Ausstellung schon einen Eindruck, wie die Documenta sein wird? Enwezor : Sicherlich in dem Sinn, als sie Politik, Kultur und Gesellschaft nicht isoliert voneinander sieht. STANDARD: Was bestimmt den Unterschied von Documenta- Panels über Demokratie zu solchen, die auf einer reinen Wissenschafts- oder UNO-Konferenz abgehalten werden? Enwezor : Schon wenn ich oder andere dies hier an der Akademie und weiter an den nächsten Orten tun, dann erhält dies eine neue Bedeutung und inhaltliche Erweiterung durch den künstlerischen Kontext. Das bringt neue Öffentlichkeiten für die Documenta. Vielen Leute, die ich im Laufe meiner Vorbereitungen getroffen und kontaktiert habe, war die Documenta überhaupt kein Begriff. STANDARD: Braucht Ihre Documenta nach diesen Plattformen überhaupt noch Kunst, eine Ausstellung? Enwezor : Unbedingt. Es wäre dreist und arrogant, diesen Bereich verdrängen zu wollen. Wir wollen ja nicht den theoretischen Diskurs als einzig gültige künstlerische Praxis etablieren, visuelles beziehungsweise bildendes Arbeiten infrage zu stellen. Wir erweitern nur die Möglichkeiten, spartenübergreifend zu denken. Es geht um einen gemeinsamen Horizont, den wir erkunden und verstehen lernen wollen. STANDARD: Ihr Interview im Spiegel war übertitelt mit "Ich spreche auch mit Malern"... Enwezor : Ja, das antwortet man eben auf Fragen wie "Warum ist Malerei nicht mehr aktuell?". Wenn man so etwas wirklich wissen will, soll man die Künstler selbst dazu befragen. Kunst und ihre Aktualität ist keine Frage von Malerei, Fotografie oder Video. STANDARD: Fürchten Sie nicht, dass die Aufmerksamkeit nach der ersten Plattform nachlässt? Enwezor : Ich glaube eher, dass die Aufmerksamkeit eine sehr unterschiedliche sein wird in den diversen Ländern - die Interessenschwerpunkte verlagern sich. Es gibt keine synchron tickenden Uhren. Wir arbeiten mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Es geht ja nicht darum, dass all die Hunderttausenden von Besuchern einer Documenta auch nach Wien, nach Neu- Delhi und Lagos kommen. STANDARD: : Das Mode-Unwort des "verorteten Diskurses" meint so etwas wie "think global, act local". Enwezor : Zum Beispiel wird die Londoner Veranstaltung die Diskussion Richtung Islam richten, weil diese Fragen gerade in Großbritannien in diesem Kontext sehr wichtig sind. Wir wollen aufeinander aufbauende Aktivitäten in Gang setzen, die sich im Jenseits des Unterhaltungsangebotes der typischen Megaevents bewegen. STANDARD: Das ist Ihre zentrale Idee: das Werden der Documenta transparent machen. Wieso ist das so wichtig? Enwezor : Früher hat man die Gerüchteküche brodeln lassen, und kurz vor der Documenta hat man den Korbdeckel aufgemacht und das Innere präsentiert. Meine Stategie lautet: keine Mystifikationen. Mir ist bewusst, dass das auch für uns gefährlich sein kann. STANDARD: Indem Sie sozusagen die ganze Welt künstlerisch wie politisch trotzdem in einen Topf werfen: Sie haben den Anspruch wie die Documenta-Gründer des Nachkriegsdeutschlands, denen es "nicht nur um Fragen der ästhetischen Lebensfähigkeit der Künste ging, sondern auch um ein soziales und politisches Weiterleben". Sie sagen auch, wir leben in einer neuen Zeit von Ungewissheit. Enwezor : Es wäre völlig sinnlos, einen kritischen Diskurs über das kulturüberschreitende Zusammenwirken von Kunst, Gesellschaft, Politik und den Wissenschaften zu initiieren, ohne gleichzeitig nicht auch die Institution, die diesen Diskurs als Plattform ermöglicht - die Documenta selbst - zu analysieren. Und der historisch kritische Versuch der Neubewertung der Documenta kann nur als offener Diskurs zu Ergebnissen führen. Nur indem ich die Konvention umgehe, nach der eine Ausstellung eine zeitlich begrenzte, in sich geschlossene Konstruktion mit einem starren thematischen Rahmen ist, kann ich den öffentlichen Raum mit seinem Potenzial für Dialog und Diskussion beleben. STANDARD: Wieso beginnen Sie gerade in Wien die Plattformen? Enwezor : Wir wollten auf jeden Fall in einem deutschsprachigen Land starten. Da bot sich uns - über eine meiner Co-Kuratorinnen, Ute Meta Bauer vom Institut für Gegenwartskunst - die Akademie der bildenden Künste an. Als Kooperationspartner in einem Netzwerk, das den interdisziplinären Austausch von Wissen ermöglicht. STANDARD: Wie schaut Ihr Österreich-Bild aus? Enwezor : Der Eindruck des großen Empire ist für mich gegenwärtig, auch der Überbegriff "Kultur". Alles schaut hier so gut erhalten aus. Wurde Wien nicht auch zerbombt im Krieg? Und übrigens, die aktuelle politische Situation hatte keinen unmittelbaren Einfluss auf unsere Entscheidungen, die Plattform 1 hier aufzustellen. Aber wie an allen anderen diskursiven Orten auch werden die Bedingungen, unter denen hier Kunst produziert wird, in Umlauf gebracht und rezipiert wird, die Diskussionen - an denen ich möglichst oft teilnehmen werde - mit bestimmen. STANDARD: Das ändert auch das Bild vom Kurator. Enwezor : Wir arbeiten als vernetztes Team. Und wir wollen nicht etwas bestimmtes Neues erfinden. Wir wollen Wissen teilen. Das geht nur vor Ort. Nicht in der Enge nur eines Fachgebietes. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27./28. 1. 2001)