In gegenseitigen Spiegelungen treffen sich die langjährigen Freunde und Nachbarn Thomas Bernhard und Karl
Ignaz Hennetmair. In seinem Haus in Ohlsdorf besuchte
Richard Reichensperger
den Archivar des Gefühls -
chauffiert von
Claus Philipp
.
Drei Jahre, nachdem der Ohlsdorfer Realitätenvermittler Karl Ignaz Hennetmair jeden Kontakt mit ihm abgebrochen hatte, schrieb
Thomas Bernhard 1978 in
Ja
die Utopie einer Versöhnung.
Nur für wenige Menschen - den Großvater Johannes Freumbichler, den "Lebensmenschen" Hedwig Stavianicek - konnte Bernhard
in seinem Werk so warme Töne finden wie für Hennetmair, der im (stark autobiographischen)
Ja
als "Moritz" auftritt: "Ich hatte zu
diesem Zeitpunkt nur diesen einen einzigen Menschen, zu dem ich hatte gehen können und ich hatte diesen einen einzigen
Menschen immer, wenn ich in eine Notlage gekommen war in dieser Zeit, ausgenützt und so auch an diesem Nachmittag."
In einem Werk, das die Isolation, die Kontaktlosigkeit und die Ausgesetztheit exzentrischen Denkens thematisiert und wie keines
sonst "Kälte" beschreibt, müssen Stürze in plötzliche Geborgenheit umso mehr auffallen: "Die Gastfreundschaft im moritzschen
Hause ist die größte gewesen, das Wesen der Frau Moritz, der Mutter des Moritz, die Art und Weise, in welcher die ganze Familie
Moritz lebte, waren mir Fluchtpunkt gewesen. Ich hatte immer, auch in der ausweglosesten Situation im moritzschen Hause
Schutz gefunden."
In einem Werk, das von Attacke lebt und die apodiktische Unerbittlichkeit zum Generator anarchischen Denkens macht, da
müssen Sätze berühren wie: "Ich redete und redete und mißhandelte indem ich ununterbrochen auf ihn einredete, den Moritz auf
die niederträchtigste Weise. Aber der Moritz hatte sich das alles gefallen lassen, wie er sich sehr oft gemeine
Verbalmißhandlungen meinerseits gefallen hatte lassen, weil er nicht ohne Zuneigung für mich gewesen war von Anfang an."
Nun: Der "wirkliche", 1920 geborene und in Ohlsdorf/Weinberg 6 ansässige Karl Ignaz Hennetmair erscheint ziemlich genau so,
wie Bernhard ihn beschreibt. Das lässt sich - ein Lieblingswort Hennetmairs - auf zweierlei Weise "besichtigen": Erstens
persönlich, zweitens in Gestalt seiner Schriften:
Wir waren im Schneeregen durch die "Aurachtalenge", am Haus des Tierpräparators Höller aus
Korrektur
(1975) vorbei, nach
Weinberg gekommen (Hennetmair: "Ich werde vor dem Haus stehn und mit einer Schneeschaufel signalisieren"). Über unsere
Gespräche später mehr.
Die Geschichte wird nämlich noch vertrackter: Denn Karl Ignaz Hennetmair beschrieb seinerseits den Thomas Bernhard. Wenn
auch nur ein Jahr lang, aber dafür Tag für Tag, und das gibt auch schon gegen 600 Seiten und ist eines der besten Bücher der
letzten Monate:
Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch
1972, Residenz-Verlag.
1972 kannten sie sich bereits acht Jahre und drei Häuser lang - die berühmten Stammhäuser des mit Thomas Bernhard zugleich
einsetzenden wie verlöschenden Literaturfürstengeschlechts hat alle Karl Hennetmair vermittelt: Das berühmteste, Obernathal 2 -
einige hundert Meter Luftlinie von seinem eigenen Haus entfernt - schon 1965, die anderen beiden - die "Krucka" und das
"Haunspän" - immer dann, wenn Bernhard sich für das Schreiben unter Druck setzen und deshalb Schulden machen wollte.
So notiert Hennetmair am 13. Februar 1972: "Außerdem soll ich ihm dringend ein Stück Grund oder Wald, da oder in der
Reindlmühl, auftreiben. Er muß was kaufen, er braucht einen gewissen Zwang zum Schreiben. Solange er nicht weiß, dass wieder
eine größere Summe erforderlich ist, kann er nicht schreiben."
War es eine "Zuneigung von Anfang an"? - "Hochschätzung", sagt Karl Ignaz Hennetmair am Küchentisch, "wir haben uns sehr
geschätzt, hoch geschätzt. In dem Moment, wo man mit einem Geistesmenschen zu tun hat, will man ihn doch nicht vernichten.
Da gibt es doch genug, die das wollen. Ich kann doch nicht in meiner Nähe jemanden haben, der scheitert. Schon aus
Geschäftsinteressen nicht."
Natürlich provoziert das Bernhard-Wort "Geistesmensch" eine Nachfrage nach dessen Ursprung: "Als er den Hof kaufte und ich
wusste, er ist Schriftsteller - aber 'Schriftsteller' sagt mir ja nichts. Das ist ein Anwalt ja auch, der ist auch Schriftsteller und macht
Schriftsätze. Und so sagte er, er bringt mir am 14.1. 1965 ein Buch,
Frost
. Und ich frag die Tante (Anm.: Frau
Stavianicek), die dabei war, was ist er eigentlich für ein Schriftsteller. Sie sagte: Er schreibt nur Hochgeistiges, er ist ein
Geistesmensch."
Und ein solcher ist isoliert. Ein bedeutender Schriftsteller am Land - das war in den 60-er Jahren noch ganz ungewöhnlich. Zwar
war es das Jahrzehnt der "Häuselbauer", aber diese bildeten in ihrem Bauen eine Gemeinschaft, die so erstmals nach dem Krieg
das Ende von dessen wirtschaftlichen Folgen signalisieren konnte: Gebaute Verdrängung. Nur Hennetmair war anders, passte mit
seinem kritischen Blick auf die Kriegserfahrungen in Russland nicht ganz in die inszenierte Idylle.
Und mitten da hinein begann Bernhard, nicht Neues zu bauen, sondern Verfallenes zu renovieren. Wie Hennetmairs
Aufzeichnungen zeigen, war die Festung aber auch schnell wieder bedroht: Ölbohrungen neben dem Hof, vor allem aber ein
geplanter Schweinestall ziehen sich in Eingaben an die Behörden durch die Chronik der Tage und dokumentieren, wie berechtigt
die Menschenfeindschaft des Dichters ist.
Zugleich werden in der Ohlsdorfer Periode bis 1975 die Häuser in Bernhards Werk - von
Verstörung
(1967) bis
Auslöschung. Ein
Zerfall
(1986) - auch das zentrale Bild für künstlerische Arbeit und für Aufklärungs-Arbeit. Und mitten drin steht der
Realitäten-Vermittler, der dem Dichter mit seinem nüchternen und genauen und oft sehr witzigen Blick tatsächlich Realität
vermittelt: "Um 18 Uhr trafen wir uns wieder bei mir, um beim Tapezierer Steinmaurer in Vorchdorf wegen schwarz abfärbender
Rauhlederbezüge auf den Sesseln zu reklamieren" (4. Jänner 1972).
Unglaublich jedenfalls, wie intensiv Hennetmeier in seiner Chronik des Jahres 1972 die Tagesabläufe Bernhards wahrnimmt,
wieviel Zeit sie miteinander verbringen: Meist treffen sie sich schon am Morgen am Postamt, dann oft zum Mittagessen in
Hennetmairs Familie, sehr oft aber zu Fernsehabenden. Dazwischen: Gespräche über Bauen, Gespräche über Post von und an
Verlage, erste Preise: Gerade durch den knapp referierenden Stil Hennetmairs fällt es auf, wie Bernhard um 1972 noch an der
Schwelle zum großen Ruhm steht: Sie sprechen noch über kleine Preise und erwarten die erste Festspiel-Aufführung (
Der Ignorant
und der Wahnsinnige
).
Und an einen der vielen gemeinsamen Fernsehabende erinnert er sich in seiner Chronik: "Wir saßen vor Jahren gemeinsam vor
dem Apparat, als die Meldung kam, daß Doderer gestorben sei. Wie elektrisiert sprang Thomas vom Sessel, klatschte in die
Hände und rief erfreut: Der Doderer ist gestorben. Auf meine Frage, warum ihn das so freue, sagte er: Doderer war doch in
Österreich das Renommierpferd, und solange der lebte, konnte keiner hochkommen. Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich."
Offenbar stand Karl Ignaz Hennetmair für Bernhard lange an der Schnittstelle zwischen Realität und Realitäten. Und es ist kein
Zufall, dass Bernhard die Nähe Hennetmairs suchte: Karl Ignaz Hennetmairs Großvater war jüdisch, musste seinen Namen -
Grünzweig - aber auf Verlangen seiner Frau bei der Hochzeit ablegen, wie Hennetmair in seiner Chronik am 25.1. anmerkt: "Ich
habe mich sehr gefreut, Thomas zu bestätigen, dass ich von Juden abstamme, und Thomas schätzt von allen Menschen die Juden
am meisten."
Und Hennetmair ist - auch hierin eine Ausnahme in der Generation der Kriegsteilnehmer am Land - ein Nazi-Gegner: "Ich habe
alles gesammelt, ganz früh in der Jugend schon die Nazi-Gegenpropaganda. Man braucht doch nur hinschaun: Sowohl die SS wie
die SA haben auf der Mütze einen Totenkopf getragen - wenn einer das auf dem Kopf trägt, was wollen Sie da erwarten. Da kann
man nicht sagen: Wir haben nichts gewusst. Es ist doch nicht schwer, sich da richtig zu verhalten und dennoch, ein Beispiel:
Immer hören wir im Radio von Autounfällen, hunderte Auffahrunfälle. Und dennoch hält niemand den Abstand ein."
Es ist diese frühe Todesnähe und Erfahrung, die Hennetmair mit Bernhard verbindet: "In der Kompanie waren wir zuerst 100, dann
40, dann wieder aufgestockt bis 200, dann wieder vierzig. Und ich bin unter den letzten vierzig Überlebenden geblieben." Dieses
Überleben - ein Grundthema auch in Bernhards Werk. Nur Hedy Stavianicek, die er in der Lungenheilstätte in Grafenhof
kennengelernt hatte, war ähnlich nahe dem Tod gestanden. Und Bernhard erscheint in Hennetmairs Aufzeichnungen als ein
unglaublich am Tod, aber auch in komischsten Varianten, Interessierter. Hennetmair will ihm deshalb auch immer zu einer
"Komödie" raten, denn: "nur ernste Dichter können eine Komödie schreiben", meint er.
In Russland hat Karl Hennetmeier alles fotografiert, tausende Soldaten, Bewegungen, Landschaften, Menschen: "Hier stehen
sechs vor dem Russlandfeldzug, noch ohne Orden. Und hier ein Foto im Jahr darauf: Alle sechs haben Orden. Aber es sind sechs
andere, die ersten waren schon lange tot." Und als uns Hennetmeier ein Foto aus einem Ghetto zeigt, deutet er auf einen alten
jüdischen Mann: "Hier ist er mit Bart." Dann ein zweites Foto: "Der Bart wurde ihm abgeschnitten." Und dann kam ein Befehl: Die
Juden müssen erschossen werden. Aber unser Kompaniechef war ein Preusse und sagte, das wird er nicht machen. Und ich
sagte zu dem alten Juden: "Verschwind, lauf davon". Aber dann kam ein junger SS-Mann: In den Augen Hennetmairs sind Tränen.
Das immer den Boden suchende, den Boden bereitstellende, auf dem Boden bleibende des Karl Ignaz Hennetmair gewann
Bernhards Zutrauen und prägt auch den Stil seiner Chronik wie seines Erzählens: Als Thomas Bernhard sich bei Waldarbeiten
schwer verletzt und sich unter Schockwirkung gerade noch zum Auto schleppen kann, da erinnert sich Hennetmair an
Schockwirkungen im Krieg: "Ich habe ihm früher aus meinen Kriegserlebnissen mehrmals von solchen Schockwirkungen erzählt.
Unter anderem von einem Soldaten, der seine eigenen Eingeweide zum Hauptverbandsplatz getragen hat". Vor allem aber ist es
die Erzählkraft Hennetmairs und sein Blick auf die Wirklichkeit, die weitere Nähe schaffen. So verbringen die beiden viele Stunden
auf gemeinsamen Spaziergängen, die Bernhard schon aus Gesundheitsgründen unternehmen muss. Der Grund ist seine Atemnot,
und das Thema ist "Luft". Und das weiß Hennetmair über Luft zu sagen, am 30.1. 1972:
"Dabei fällt mir ein, dass Thomas in Wien von Schriftstellern immer angejammert wird, dass sie keinen Stoff haben, um etwas zu
schreiben. Das kommt mir ganz jämmerlich vor. Wenn einer sagt, er hat keinen Stoff, dann kann er nie ein Schritsteller sein, denn
der erste Stoff, den er spürt, ist doch die Luft, die er einatmet, und davon allein müßte man ein Leben lang schreiben können. Die
Luft, die wir hier einatmen, die könnte was erzählen. Du gehst ja auch wegen der Luft spazieren und brauchst die Luft ... Thomas
hörte mir damals ruhig zu, ohne etwas zu sagen, und das gilt bei ihm in viel höherem Maße als Zustimmung, als wenn er dazu
Worte verwendete."
Doch, es war eine lange und wichtige Freundschaft. Aber warum endete sie? Hennetmair: "Er hat mich für etwas beschuldigt, was
unwahr war. Und weil es unwahr war, kann ich es Ihnen auch nicht erzählen. Weil wenn Sie es dann schreiben, so würden Sie ja
eine Unwahrheit schreiben." Karl Hennetmair heute über
Ja
: "Nach drei Jahren hat er vielleicht geglaubt, ich sei weich. Aber er
sagte immer: konsequent sein. Ich habe ihm's gezeigt, die Konsequenz. Er hätte es mir übel genommen, wenn ich nicht
konsequent gewesen wäre. Siehst du, du bist auch so ein Weicher, hätte er gesagt. Und er verachtete weiche Menschen.
Konsequent bis zum Tod."
Auf die Frage, ob er nach dem Bruch 1975 noch Bücher Bernhards gelesen habe, antwortet Hennetmair: "Nach seinem Tod." Und
seither hat er nicht mehr damit aufgehört. Aber: "Ich werde seit 10 Jahren in Österreich marginalisiert." Das stimmt. Und es hat
seinen Grund in etwas, was engstens mit Freundschaft und mit dem Tod zusammenhängt: Karl Hennetmeier kann nicht glauben,
dass Thomas Bernhard eines natürlichen Todes gestorben ist. Vor zehn Jahren warf er Peter Fabjan Sterbehilfe vor. Und die ist für
ihn, den äußerst strengen Katholiken, in keiner Form tolerabel: Da ist er der strenge Kantianer, den Bernhard in Kant so ironisch
zeigen kann. Und er ist unerbittlich darin, auch nach dem Hinweis, wie krank Bernhard doch über viele Jahre auf allen Fotos schon
ausgesehen habe.
Und auch der Hinweis, dass er in seiner Chronik in Gesprächen mit Peter Fabjan viel Verständnis für diesen zeigte und ihn oft
gegen den Halbbruder Thomas verteidigte, hilft nicht sehr viel weiter. Unversöhnt bleibt er, Karl Ignaz Hennetmair. Aber man sollte
ihn nicht mehr so auf die Seite gedrängt stehen lassen. Er gehört ins Zentrum, als ein wichtiges Glied in der Biographie eines in
vielem, aber nicht unbedingt in Freundschaft, genialen Dichters: Karl Hennetmair hingegen ist eines ganz sicherlich: Ein Genie der
Freundschaft, pardon: "Hochschätzung."
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11. 2. 2001)