Gesundheitspolitik
Kranke Kassen: Untätigkeit ist die beste Medizin?
Oder: Wie man an dem Ast sägt, auf dem man sitzt - Christian Köck zur Debatte um den Zustand und die Zukunft der Krankenversicherung
In der Diskussion um die soziale Krankenversicherung wurde eine grundlegende Frage bisher nicht diskutiert: Wie soll eine
Organisation, die aufgrund von Größe des Budgets und politischer Verankerung beträchtliche Gestaltungsmöglichkeiten
besitzt, mit den steigenden Kosten umgehen?
Daraus ergibt sich die weitreichendere Frage: Welche Ansprüche an ihre Reformkraft stellen wir? Begründet wurde die
Sozialversicherung, um das Recht auf Gesundheitsversorgung für alle und die Interessen der Patienten dauerhaft zu sichern.
Was ist daraus geworden, wie sieht die Zukunft aus?
Schere klafft auseinander
Wie in allen Ländern, so öffnet sich auch in Österreich die Schere zwischen der hauptsächlich über das Angebot gesteuerten
Nachfrage und den Finanzierungsmöglichkeiten durch Steuern und Sozialversicherungsabgaben. Der so entstehende
Kostendruck ist zwar unangenehm und ungewohnt, aus der Sicht der Gesellschaft aber zu begrüßen und überfällig.
Damit wird der Gesundheitsbereich endlich gezwungen, sich mit seiner Ineffizienz auseinander zu setzen. Denn die lange
geübte Praxis, Beiträge zu erhöhen, anstatt über Rationalisierungen nachzudenken, ist so sehr etablierte Logik, dass die
Idee, die Ressourcen könnten sinnvoller eingesetzt werden, gar nicht mehr aufkommt. Dies ist, als würden wir der
Verbundgesellschaft glauben, dass ein niedrigerer Strompreis die Versorgung gefährdet. Es stellt sich also die Frage, wo das
System Speck angesetzt hat:
Aufgeblähtes Gesundheitssystem
Österreich ist Spitzenreiter bei der Anzahl der Krankenhausbetten und daher auch Krankenhausaufnahmen, hat
beträchtlichen Spielraum bei der Reduktion der Gewinnspannen bei Medikamenten, leistet sich eine Unmenge überflüssiger
Doppeluntersuchungen und in bestimmten Fachbereichen eine Vielzahl überflüssiger, für den Patienten nutzlose Operationen.
Wir haben es mit einem System zu tun, dessen durchschnittliche Arztpraxis oft über keinen Computer verfügt, geschweige
denn, dass sie mit Versicherern oder Krankenhäusern vernetzt wäre; ein System, in dem niedergelassene Ärzte isoliert in
ineffizienten Einzelpraxen arbeiten, wo durch die perversen Anreize einer getrennten Finanzierung ambulanter und stationärer
Leistungen 25 Prozent der Bevölkerung jährlich in Krankenhäusern aufgenommen werden (ein europäischer Spitzenwert), wo
die Einführung der effizienten Chipkarte zum x-ten Mal verschoben wird und wo frei praktizierende Ärzte dann am besten
verdienen, wenn sie Patienten möglichst schnell zum nächsten Spezialisten schicken. Dieses System produziert also
Phänomene, die nur dann möglich sind, wenn jeglicher Druck zur Effizienzsteigerung fehlt.
Partnerschaftliche Pflege des Status quo
Warum, so stellt sich die Frage, gibt es den nicht? Die Antwort ist einfach: Weil genügend Leute davon profitieren, dass es
so ist, wie es ist. Denn bei jeder Diskussion über das Gesundheitswesen sprechen wir zwar immer von
Gesundheitsausgaben, aber jeder ausgegebene Schilling stellt jemandes Einkommen dar. Was hat der Hauptverband in
dieser Situation nun getan? Ziemlich wenig. Es wurden keine gesundheitspolitischen Initiativen gesetzt, die geeignet wären,
das Recht auf Versorgung auch nachhaltig, außer über steigende Beiträge zu sichern. Die Vertretung der
Versicherteninteressen wurde bereits 1949 mit der Abschaffung der Direktwahl zu den Vertretungskörpern demontiert. Seither
steuern Repräsentanten der Sozialpartner die Gesundheitspolitik des Hauptverbandes.
Sie tun dies, wie die obigen Beispiele zeigen, nicht mit dem Ziel, effizienten Ressourceneinsatz zu gewährleisten, sondern vor
allem mit Blick auf die korporatistischen Interessen der Sozialpartner. Diese decken sich aber, wie so oft, zum Beispiel beim
Ladenschluss, nur marginal mit den Interessen der Res publica.
Gesunde Lobbys, betrogene Patienten
Nun argumentieren manche, dass der Hauptverband Reformen nicht alleine bewirken könne, von der Politik abhängig sei.
Dieser Hinweis auf die eigene Machtlosigkeit ist fast lächerlich. Wären mit demselben Eifer wie die Beitragserhöhungen auch
Reformen verlangt worden, wir wären in einer anderen Situation.
Auch ist das einzig stichhaltige Argument für die Besetzung der Gremien mit Sozialpartnern, dass so Vertreter derselben
Organisationen bei den Kassen das Sagen haben, die auch eine Vielzahl der Abgeordneten der gesetzgebenden
Versammlungen stellen. Wie wäre es da nicht möglich zu reformieren, wenn man nur wollte?
Fazit ist: Wenn der Hauptverband sich nicht bald anschickt, die oben angesprochenen Probleme zu lösen und den
Verantwortlichen nicht bald mehr einfällt als der Ruf nach höheren Beiträgen, stellt sich die Frage nach seiner
Existenzberechtigung. Gegründet, um das Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung sicherzustellen, fehlt der Mut, sich
mit den Lobbys anzulegen. Dies schreit geradezu nach einer offenen Diskussion über das gesamte System. Zu fragen ist:
Kann ein zur Gänze steuerfinanziertes und von der Politik direkt kontrolliertes System, wie zum Beispiel in den
skandinavischen Länder, eine effiziente und moderne Gesundheitspolitik nicht besser gewährleisten?
Interessen der Versicherten im Vordergrund
Diese Untätigkeit, die Komplizenschaft mit jenen, die von den herrschenden Problemen profitieren - und dies sind nicht die
Patienten -, gefährdet eben jenes Recht auf Gesundheitsversorgung, das zu sichern die soziale Krankenversicherung
gegründet wurde.
Will sich das bestehende System weiter legitimieren, dann muss es die Vertretung der Interessen der Versicherten ernst
nehmen und etablierten Lobbys den Kampf ansagen. Die Unterstützung von uns, also von allen anderen, ist sicher. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 14. 2. 2001)