Wollte man das vielfältige literarische Schaffen von Friederike Mayröcker in einer liebevoll ironischen Formel zusammenfassen, so müsste man sagen: Sie erprobt immer neu die Übersetzbarkeit von Materie in Sprache, von Schichten des Draußen in geschichtete Sprache. Daher muss sie auch so viele sprachliche Formen finden und erfinden: um die unendliche Vielfalt des Wirklichen - und dazu gehören auch das eigene Innere, Erfahrensweisen, ja das Innewerden der Möglichkeiten von Sprache - dahinein "übersetzen" zu können. Dies ist vielleicht das hervorstechendste Merkmal ihres Werkes: sein immenser Formenreichtum, die Vielfalt der Gattungen - vom Gedicht zur Erzählung und zum Roman, vom Drama bis zum Hörspiel, vom Bildkommentar bis zur Prosaminiatur - , deren sie sich eben nicht "bedient", sondern die sie verändert, verschiebt und die sie ergänzt um Texte, um Textarten, für die es noch gar keine Gattungsbezeichnungen gibt. Ihre poetische Welt, entfaltet unter Verzicht auf Biografie, bezieht sich zwar deutlich auch auf eigene Existenzialia, aber ihr Werk erklärt und nährt sich entscheidend nicht aus ihrem Leben. Sie hat ihre ganze Existenz dem Schreiben gewidmet, aber auch wenn sie in ihren Texten "ich" sagt, gilt ihre leise und entschiedene methodische Warnung: "Das bin nicht ich, das ist ein Bild von mir." Ihre Welt ist dergestalt, aus Gründen der Historie und aus Gründen sehr radikaler Einsicht in die Struktur des Ich überhaupt, nicht monoperspektivisch, kennt keinen gesicherten Blick auf die Welt oder ins Innere der Erzählenden oder doch Sprechenden. Der Grundgestus ist vielmehr der eines vorbehaltlosen Sich-Überlassens an die Welt, die "Materie" aller Art - inklusive der Sprache selbst. Friederike Mayröcker gehört zu den Autorinnen und Autoren, die nicht schon wissen, was sie wollen, geschweige denn: was sie erzählen wollen. Ihre poetische Welt ist nicht im Voraus strukturiert, sondern ist zentriert im Nichtdekretorischen, organisiert nicht im Begriff oder gefasst durch das Gefäß einer Gattung, sondern offen für Zersplitterung und Fragment, herausgefordert von der zarten Integration des sperrigen Details und der flüchtigen Assoziation, in Entsprechung zu einer Welt, die dem eindeutig deutenden Zugriff sich mehr denn je entzieht, und zu diesen nicht beherrschbaren Sujets gehört gerade auch das Ich, die Psyche. Der Surrealismus und die ihm vorausgehende bzw. hinter ihm stehende Psychologie des assoziativen Denkens und des Unbewussten sowie die theoretischen Arbeiten, die von Lacan bis Deleuze, von Foucault his Derrida den wissenschaftlichen beziehungsweise genauer vor allem den allgemein textwissenschaftlichen Raum dominieren, haben ihre Reflexe bei Friederike Mayröcker hinterlassen, werden als Anregung in unzähligen Spuren in ihren Texten einbekannt, doch tritt keine terminologische Konkurrenz zu ihnen, weder in ihren künstlerischen noch in diskursiven Texten wie Essays oder Poetik-Vorlesungen: Die gibt es bei ihr gleich gar nicht. Sie nimmt wissenschaftliche Theorie so auf, wie es dem Künstler ansteht, dessen Ethos seinem eigenen Werk gilt: Sie plündert sie, sie lässt sich skrupellos anregen, sie nimmt wissenschaftliche Theorien radikal "konstruktiv" auf, indem sie sich in ihrer Arbeit bestärken lässt und die texttheoretischen und kreativitätspsychologischen Innovationen der Wissenschafter so liest, dass sie ihre eigenen Schreibweisen öffnen in neue Richtungen, die überhaupt erst die literarisch-ästhetischen Pendants zu den avancierten Theorien darstellen. In Friederike Mayröckers Texten zur Kunst - gesammelt unter anderem in dem Band Als es ist von 1992 und in den Bändchen Magische Blätter, I bis V aus dem letzten Dutzend Jahren, Texten also, die bisweilen weniger als eine Seite lang sind, formuliert sie nicht-begrifflich und doch analytisch und schafft in dichterischer Prosa Entsprechungen zu den betrachteten Werken der bildenden Kunst, die dekonstruktiv und genuin kreativ zugleich sind. In Friederike Mayröckers Romanen seit Die Abschiede von 1980, die doch keine Romane im herkömmlichen Sinne mehr sind, in denen sie aber stellenweise, wie sie leise selbstverspottend notiert, "das schöne Erzählen" wieder "gefunden: erfunden" hat, gegen welches sie so oft "gewettert" hatte, in diesen Romanen also geht Friederike Mayröcker den Verläufen von Stimmungen und psychischen Prozessen in einer Weise nach, dass nicht mehr eine "Story" erzählt, von Handlungen erzählt wird, sondern von Zuständen. Solches Erzählen ist ebenfalls ohne die auf die Erkenntnis der Assoziationsmechanismen bauende Psychoanalyse nicht denkbar, entzieht aber zugleich die Literatur den Verstehensschemata der Psychoanalytiker, die in künstlerischen Dingen meist zwar feinsinnig, aber banausisch sind, und übersteigt sie. Aufgabe des Künstlers ist es nicht, andere Künstler oder Wissenschafter adäquat und gerecht zu verstehen - und Wissenschaft hat ja auch kein Monopol auf Erkenntnis -, sondern Erkenntnis auf dem Niveau des avanciertesten "state of the art" der Kunst dienstbar zu machen, wahrhaft subjektiv, wahrhaft egoistisch Gebilde schaffend, in denen Einsichten aufbewahrt sind, die weit mehr als "subjektiv" sind und das berühmte "Verschwinden des Subjekts" also sowohl widerlegen als auch bestätigen. Dieser Art sind die Texte von Friederike Mayröcker. Die Literaturwissenschaft stellt zur Bezeichnung von Charakteristika des Werkes von Friederike Mayröcker unter anderem die Begriffe der "Intertextualität" und der "Intermedialität" zu Verfügung; im Einzelfall lassen Sie uns hoffen, dass der Gebrauch dieser Begriffe durch sehr detaillierte Kenntnis der Texte gedeckt ist. Diese Begriffe bezeichnen gewiss etwas an dem so willkürlich expropriierenden wie verehrungsvollen Umgang Friederike Mayröckers mit den Texten und den Bildern anderer Künstler, von Samuel Beckett angefangen über Max Ernst bis zu dem, der ihr "seit Jugendtagen die leuchtende Schrift an der Wand am Himmel im Buch" war, nämlich Friedrich Hölderlin. Aber sieht man näher hin, so sind die hergebrachten erzähltechnischen und metaphorologischen Begriffe flächig und ungenau, wenn es um die Gedichte und die Prosen Friederike Mayröckers geht. Denn da kann aus einem Bildband ein Tonband werden, und daraus ein Hörspiel, in dem Sprache und Bild, Erzählung und Drama, Setzung und Reflexion sich verschlingen, sprich: Es handelt sich dann um "Umarmungen", eine Verbindung zwischen zwei Medien, für die der Begriff "Intermedialität" allein klassisch leer zu werden droht. Gerade dies aber an ihren Texten - um diesen dürren Sammelbegriff noch einmal zu benutzen, weil es doch nicht möglich ist, dauernd so pompös von "Werken" zu sprechen - verursacht uns die größte "Lust am Text": dass diese Dichtungen, welche von der Nähe zum Gebrauchstext bis zur Nähe zum Roman, bis zum Gedicht an das bisher Bekannte heranreichen, immer zugleich die Gattungsgrenzen aufheben und Texttypen neu konstituieren, die kein regelpoetisches Rezept, aber offenbar und wunderbar ein Zustandekommen haben und uns damit vor die Herausforderung stellen, dass Begriffe für sie nicht so leicht erarbeitbar und anwendbar sind, wir also die "selige Anstrengung" unternehmen müssen, ihre Arbeit mit unseren literaturwissenschaftlichen Begriffen - und das heißt: neuen Begriffen - zu benennen. In der Formulierung eines Autors, den Friederike Mayröcker vor Jahren als Anreger sehr schätzte: Es gibt ja Dichter, die "hoffnungslos verständlich" sind, die also wenig mehr von uns verlangen als zustimmend nickende Lektüre, ein so genanntes "Sich 'reinziehen", nach welchem sie dann sofort in unser literarisches Weltbild und vielleicht gar auch in unsere politischen Anschauungen einzubauen sind. Nichts hiervon bei Friederike Mayröcker, die seit 50 Jahren mit wunderbarer Hartnäckigkeit ihrem Traum vom Schreiben folgt, nicht ohne dass ein Schatten der Melancholie über ihren Texten liegt, der aus der Erkenntnis stammt, dass Scheitern in gewissem Sinn unausweichlich ist, Tapferkeit aber darin besteht, sich zu bemühen, "besser" zu scheitern. Wir, die Literaturwissenschafter, sind dankbar, dass Friederike Mayröcker durch die Komplexität ihrer Dichtungen uns vor solch beglückende Herausforderungen stellt. "Erkenntnis" ist, wie gesagt, nicht an Wissenschaft gebunden, sie kann ganz anders, in ganz anderen Materialien und Medien und nicht zuletzt eben in der Kunst sich konstituieren, und die Wissenschaft zeichnet sich eigentlich nur dadurch aus, dass sie sich auf Verfahren zur Überprüfung und Diskussion ihrer Erkenntnisse geeinigt hat. Die Wissenschaft von der Literatur aber würde keinen Fortschritt machen, kämen ihr nicht Gegenstände vor Augen, Texte, in denen Sprache aus mehr besteht als aus schnöden "Zeichen" und die also anders als 1:1 mit der Welt korrelieren, Texte, die das Außerordentliche, nach surrealistisch-romantischem Sprachgebrauch: das Wunderbare in neuer Form enthalten, in so neuer Form, dass wir zu der Anstrengung gezwungen sind, uns benennend und unterscheidend Rechenschaft zu geben über diese ästhetischen Gegenstände. Dergestalt nämlich fördert alle Poesie von Rang die Wissenschaft: indem sie so und so sehr verunsichert, dass die Literaturwissenschaft sich vom Nichtverstehen über erste Thesen bis zu geprüftem, aber immer nur vorläufigem Verstehen bewegt. Daher hat die Literaturwissenschaft Friederike Mayröcker zu danken, und daher tut die Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld Recht daran, Friederike Mayröcker den Doctor philosophiae honoris causa zu verleihen. Universität Bielefeld, 7. Februar 2001 (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18.02.2001)