Man kann nicht feierlich sein, wenn man vielfältig ist" - so könnte das von Joseph Roth geborgte Motto für die Serie "Kulturwissenschaftliche Bibliothek Österreich" lauten, die ab der kommenden Woche in dieser Zeitung beginnt. In 52 Folgen werden im Abstand von ein bis drei Wochen Texte und Bücher vorgestellt, die an die produktive Vielfalt der kulturellen Tradition dieses Landes erinnern. Es ist dies keine Lektüre zur patriotischen Erbauung: Zu viele dieser Werke sind hiesiger Borniertheit zum Opfer gefallen oder haben erst außerhalb Österreichs jene Geltung erlangen können, die sich nachträglich leicht fürs Vaterland kassieren lässt. Es ist auch keine "Bestenliste", in manchem aber ein Kanon, mit dem sich die Einfalt der Gegenwart behandeln ließe - einer Gegenwart, die sich selbstherrlich für unendlich hält und allenfalls in Sonntagsreden die Kulturnation Österreich strapaziert, insbesondere wenn der Image-Kosmetik der Schminkstoff ausgeht. Es ginge aber darum, die Ressourcen dieser Kulturnation als Potenzial für die Zukunft des Landes ins Bewusstsein zu rufen. Das hieße jedoch die Verpflichtung ernstnehmen, diese Ressourcen überhaupt zur Verfügung zu halten, um einen lebendigen, nicht antiquarischen Umgang mit der Vergangenheit pflegen zu können. Der beabsichtigte Akzent auf der "hellen" Tradition schließt Dunkles nicht aus: Otto Weiningers misogyner Triumph Geschlecht und Charakter ist dafür ein prominentes Beispiel. Der jüngste Ordnungsruf, die Vielfalt der "Orchideenfächer" abzuschaffen, hat sich eines der ältesten Mittel bedient, die wohl nur in einer "Kulturnation" beliebt sein können: des Ressentiments gegen die Kultur. Dass sich die hierzulande auch sonst feststellbare Anstrengung, Kritik in Ressentiment zu verwandeln, in diesem Fall die Orientalistik als Beispiel gewählt hat, ist nur der ideologisch zugespitzte Ausdruck des Ausblendens einer individuell wie institutionell starken Domäne österreichischer Kulturgeschichte: Mit Hammer-Purgstalls Hafis-Übersetzungen, durch Goethes West-östlichen Divan dauerhaft der unsicheren Pflege der österreichischen Nachwelt entrückt, und Alois Musils Arabia petraea erinnert die Serie an herausragende Leistungen österreichischer Orientalisten. Das Reizwort "kulturwissenschaftlich", selber nicht frei von Ordnungs- und Machtfantasien, wird für den Zweck dieser Serie in einem vordefinitorischen Sinn gebraucht, um einen kulturellen Reichtum anzeigen zu können, der durch die historische Willkür disziplinärer Begrenzungen nicht in den Blick käme. Weder soll damit der Anspruch auf eine "interdisziplinäre Disziplin" erhoben noch der Königsweg der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts begangen werden, der jedenfalls seit Jacob Burckhardt über die Kunst führte. Damit wird das Konzept dieser Serie offen, Werke aus den unterschiedlichsten Spezialdisziplinen vorstellen zu können, die in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, die Kultur eines Landes zu repräsentieren. Die Vorliebe gilt insbesondere solchen Texten und Schreibgattungen, die sich grenzgängerisch - aber nicht dilettantisch - den etablierten Zu- und Einordnungen widersetzt haben: Feuilleton (Ferdinand Kürnberger), Reportage (Victor Adler) und Essay (Rosa Mayreder, Robert Musil, Hermann Broch). Das erhöht zweifellos das Risiko der Auswahl, das sich jedoch leichter in Kauf nehmen lässt, wenn man die Beschränkungen und Beschränktheiten bedenkt, die jeder Zunftgeist, auch der akademische, zur Folge hat. Der hierzulande (selbst bei den für diesen Bereich politisch Zuständigen) beliebte antiakademische Affekt soll indes nicht hofiert werden: Die ebenso gelehrte wie originelle Aneignung der Antike in dem Werk des Altphilologen Theodor Gomperz Griechische Denker sei hier stellvertretend genannt. Es gehört zum Reiz einer österreichischen "kulturwissenschaftlichen Bibliothek", dass Österreich mehrfach - in unterschiedlichen historischen Konstellationen - zum Gegenstand kultureller wie politischer Selbstreflexion gemacht wurde. Von Charles Sealsfields Austria as it is über Andrian-Werburgs Österreich und dessen Zukunft zu Friedrich Heers Kampf um die österreichische Identität reicht das Spektrum der Texte, in denen Autoren aus Österreich die jeweilige Gegenwart und Zukunft ihres Landes (mit) zu bestimmen versucht haben. Diese ist selbstverständlich auch dann im Spiel, wenn Autoren primär andere Sachverhalte verhandeln. In Theodor Herzls Der Judenstaat oder Jean Amérys Jenseits von Schuld und Sühne wird, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, die Gewaltsamkeit einer Konstruktion von (nationalen) Traditionszusammenhängen zum Thema. Für den Bereich der Literatur sollen das monumentale Unternehmen der Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte, herausgegeben von Nagl, Zeidler und Castle, und Otto Rommels materialreiches Kompendium zur Wiener Volkskomödie an zwei historisch bedeutsame Versuche erinnern, eine nationale bzw. regionale Tradition zu stiften. Mit Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit wird ein ungleich bekannterer und erfolgreicher Versuch einer übernationalen "Synthese" präsentiert. Der von der Tortur der Nazis seines Weltvertrauens beraubte Jean Améry hat in den Unmeisterlichen Wanderjahren - am Beispiel seiner eigenen Sozialisations- und Bildungsgeschichte in der österreichischen Provinz - eine Tradition seziert, deren antiurban-provinzielle Aufsässigkeit ihm erst im Nachhinein nicht als Rebellion, sondern als Konformität mit dem Austrofaschismus und Nazi-Terror entzifferbar wurde und die ihm gerade das genommen hat, was in der Rhetorik dieser Tradition am häufigsten beschworen wird: Heimat. Es ist ein besonderes Anliegen der Serie, dieser nach wie vor abrufbaren, verwildert-autoritären Formation der Gegenaufklärung die Leistungen einer österreichischen Spätaufklärung (Friedrich Stadler) entgegenzusetzen. In den weniger soziologisch als ideologisch disparaten Milieus der Metropole Wien wurde zwischen 1880 und 1930 an einem Projekt der Moderne gearbeitet, das für die intellektuelle Geschichte dieses Landes einzigartig ist und - bei oft desaströsen Lebensbedingungen einzelner dieser Intellektuellen - Weltgeltung erlangt hat. Die "wissenschaftliche Weltauffassung" des Wiener Kreises, seiner Vorläufer und seines über die Welt zerstreuten Umfeldes wird in dieser Serie u.a. durch Ernst Mach und Josef Popper-Lynkeus; durch Richard von Mises, Moritz Schlick, Otto Neurath, Kurt Gödel, Hans Kelsen, Karl Raimund Popper und Ludwig Wittgenstein in ihrem Pluralismus und ihrer disziplinären Vielfalt vorgestellt werden. Eine noch zu schreibende Sozialgeschichte der österreichischen Intelligenz hätte nicht nur zu zeigen, wie diese sich in den bzw. gegen die etablierten Institutionen des Wissens zu behaupten versuchte, sondern auch, wie sich Spezialistentum mit politischer Aufklärungsarbeit verbinden wollte. Durch organisatorische Allianzen wurde das Ziel verfolgt, in und vor der Öffentlichkeit Diagnose und Veränderung der Gesellschaft voranzutreiben. Aus dem vergleichsweise gut beschriebenen Umfeld des "Austromarxismus" stellt die Serie eine Konstellation von Werken vor, die Victor Adlers Sozialreportage Die Lage der Ziegelarbeiter, Otto Bauers nach wie vor brisante Studie über Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie eben so enthält wie Rudolf Hilferdings Finanzkapital oder die bahnbrechende Fallstudie empirischer Sozialforschung Die Arbeitslosen von Marienthal von Lazarsfeld, Jahoda und Zeisel aus den Elendszeiten der Dreißigerjahre. Das Konzept der Serie ist bemüht, das, was für aufgeschlossene, kulturell Interessierte normalerweise zu den "Kontexten" künstlerischer Leistungen gehört, in "Texte" zu verwandeln, die von ausgewiesenen Kennern vorgestellt werden. Deswegen sollte aber nicht auf Werke verzichtet werden, in denen die ästhetische Reflexion über Kunstgeschichte, Musik, Literatur und Architektur mit einem ausgeprägten Sensorium für die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Funktionen von Kunst einhergeht. Das schließt ein so wirkungsmächtiges Werk wie Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte nicht aus, in dem sich eine Ideologie des Ästhetischen als fragwürdige Fortsetzung eines politisch praktizierten Exorzismus der "entarteten Kunst" entpuppt. Die im engeren Sinn kunstspezifischen Werke dieser Serie reichen von den musikästhetischen Arbeiten Eduard Hanslicks und Arnold Schönbergs (nicht zu vergessen: die stupende Leistung, die Otto Erich Deutsch mit seinem Schubert-Verzeichnis erbracht hat) über die "Poetik" des bedeutendsten österreichischen Germanisten des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Scherer, zu den wieder neu zugänglich gemachten Arbeiten der Wiener kunsthistorischen Schule und schließlich dem im deutschsprachigen Raum spät verfügbaren (und wieder vergriffenen) Werk eines der prominentesten, aus Österreich vertriebenen Vertreter dieser Zunft, Ernst Gombrichs Kunst und Illusion. Ernst Fischers Von der Notwendigkeit der Kunst ist nicht zuletzt deshalb eine Folge der Serie gewidmet, weil damit Österreichs bedeutendster Beitrag zu einer marxistischen Ästhetik nach dem Zweiten Weltkrieg in ungünstiger Zeit neu gelesen werden kann. Die Architektur(theorie) ist mit Camillo Sitte und Adolf Loos zwar prominent, aber bedauernswert schmal repräsentiert. Die Psychoanalyse wird mit Freuds Unbehagen in der Kultur und Werken von Hanns Sachs, Otto Rank und Theodor Reik nicht zuletzt in ihrer Anstrengung gewürdigt, mit der sie die Diagnose gerade auch des kollektiven Unbewussten verfeinert hat. Der bis heute anhaltende Widerstand gegen ihre Befunde ist geradezu zu einem Kennzeichen österreichischer Kultur geworden. Die Gebildetsten unter ihren Verächtern, Karl Kraus und Elias Canetti, verdeutlichen den Aufwand, der Widerstand von Ignoranz unterscheidet. Mein Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die durch ihre Bereitschaft zur Mitarbeit die Realisierung dieses Konzepts ermöglicht haben. In den folgenden Wochen werden über diese und weitere Bücher der "Kulturwissenschaftlichen Bibliothek" unter anderen schreiben: Friedrich Achleitner, Anton Amann, Hermann Blume, Evelyn Borchardt, Ernst Bruckmüller, Hanna Bubenicek, Bernhard Fetz, Heinz Fischer, Konstanze Fliedl, Wolfgang Fuhrmann, Rudolf Haller, Daniela Hammer-Tugendhat, Leopld Hellmuth, Hans Höller, Heinz D. Kurz, Hubert Lengauer, Lydia Marinelli, Wolfgang Maderthaner, Werner Michler, Karl Milford, Elisabeth Nemeth, Hans-Christian Reichel, Richard Reichensperger, Rolf G. Renner, Michael Rohrwasser, Artur Rosenauer, Peter Rosner, Hermann Schlösser, Wendelin Schmidt- Dengler, Franz Schuh, Johann Sonnleitner, Friedrich Stadler, Gisela Steinlechner, Juliane Vogel. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11./12.11.2000)
Karl Wagner lehrt Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Zuletzt Hrsg. (gem. mit Klaus Amann und Hubert Lengauer): Literarisches Leben in Österreich 1848-1890. Wien: Böhlau 2000; Demnächst erscheint die erweiterte Buchausgabe der Standard- Serie ,Bücher der Jahrhundertwende 1899/2000' (gemeinsam mit Cornelia Niedermeier) ebenfalls bei Böhlau.