Standard: Seit einem Jahr gibt es unter Intellektuellen eine heftige Debatte über die so genannten Wendephilosophie. Es geht um Haltungen und Gegenhaltungen zur schwarz-blauen Koalition. Der Vorwurf des geistigen und literarischen Dandytums wurde erhoben und noch sehr viel mehr. Im Grunde also eine Auseinandersetzung darüber, wer den neuen Machthabern die geistigen Räume zimmert und wie sehr man sich anbiedert. Herr Liessmann Sie werden dazu gezählt.

Liessmann: Der Dandy geht auf Gerhard Roth zurück, der Wendephilosoph auf Hans Rauscher, ohne das mein Name in diesem Zusammenhang je genannt wurde, aber interessanterweise assoziiert jeder diesen Namen dazu. Das ist ein österreichisches Phänomen: Man nennt niemanden, aber jeder weiß, wer gemeint ist. Und in der Tat, das scheint zu funktionieren. Der einzige, der sich weder von der Wendephilosophie noch vom Dandytum betroffen gefühlt hat, das war ich. Weil ich mich weder als philosophierender Dandy verstehe, obwohl ich den Dandyismus als kulturelle Haltung durchaus positiv sehen kann, und was den Wendephilosoph betrifft, habe ich den Begriff überhaupt nie verstanden. Erstens, weil ich meine Zweifel habe, ob es sich bei der Fortsetzung des Gewohnten mit zum Teil schlechteren Mitteln um eine Wende handeln kann. Ich halte diesen Begriff für sehr hochtrabend gewählt sowohl von den Propagandisten als auch von den Kritikern dieses Begriffes. Das zweite, der Wendephilosoph heißt ja, dass man sich selbst gewendet hat, so wie die berühmten Wendehälse nach 1989 im Gebiet der ehemaligen DDR. Es kann aber jeder nachlesen, dass das, was man an mir kritisiert ich schon 1997, 1995 und 1992 geschrieben habe.

In meiner persönlichen intellektuellen Ausrichtung kann von einer Entwicklung oder Veränderung aber keinesfalls von einer Wende im dramatischen Sinn die Rede sein. Oder man meint mit Wende jene, die den Regierungswechsel euphorisch begrüßt haben. Man kann alle meine Kommentare nachlesen und wird von Euphorie nichts bemerken. Das einzige, was ich geschrieben und gesagt habe und in dem ich mich von manchen meiner Kollegen unterschieden habe ist die Euinschätzung der Frage, ob dieser Regierungswechsel nicht nur legal, sondern auch legitim sei.

Im Gegensatz zu meiner Kollegin Charim war ich immer der Auffassung, dass das auch ein legitimer Regierungswechsel ist. Was in keiner Weise ja bedeutet, dass man diese Regierung für gut oder nicht für gut befindet. Zu dem Zeitpunkt dieser Debatte war das ja auch nicht die Frage, denn die Regierung war ja noch nicht einmal so richtig im Amt, als die Debatte um Legalität und Legitimität dieser Regierung schon entzündet wurde. Es kann also von einer inhaltlichen Affirmation zur Regierung überhaupt nicht die Rede sein. Sondern und dazu stehe ich auch. Ich halte diesen Regierungswechsel für keinen dramatischen Bruch mit demokratischen Traditionen, demokratischen Institutionen, demokratischen Entwicklungen in diesem Land. Was überhaupt nichts darüber sagt, ob ich diese Regierung gern habe oder weniger gern habe sie schätze oder nicht schätze. Vor allem was mich betrifft, Stichwort Universitäten, habe ich meine größten Bedenken gegenüber dem, was hier getan und projektiert wird. Ich bitte das zur Kenntnis zu nehmen. Gerade in Teilen der Intelligenz ist es schwierig die Frage auseinander zu halten, wie schätzt man die Legitimität einer Regierung ein zur Frage, wie schätzt man inhaltlich ihre Arbeit ein. Das sind zwei Ebenen. Ich sage ja nicht, dass es undenkbar wäre, das Legalität und Legitimität auseinander klaffen. Jeder, der die staats- und rechtsphilosophischen Diskussionen kennt, weiß das. Aber ich halte das für eine demokratiepolitische so sensible Frage, weil sie immer auch bedeutet, dass wenn man etwas zwar für legal aber nicht für legitim hält auch der Widerstand dagegen legitim aber nicht legal sein muss. Wo Recht zur Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht und das bedeutet immer auch, dass Überschreiten der rechtsstaatlichen Grenzen im Anspruch des Widerstandes und das halte ich für den de mokratiepolitischen Krisenfall schlechthin. Wenn man glaubt, die Regeln der Demokratie außer Kraft setzen zu müssen, wo so etwas geboten sein könnte, dann hat das mit dem, was sich in Österreich abgespielt hat nichts zu tun. Mit dieser Mischung aus kafakesker Kasperliade und Normalität, wie auch immer das bezeichnet wird, hat das wahrlich nichts zu tun. Gegen diese Überzogenheit und dazu noch die moralische Inbrunst, mit der diese Überzogenheit von den EU 14 zelebriert wurde, dagegen habe ich mich gewehrt.

Standard: Frau Charim Sie haben in vielen Aufsätzen die Legitimität dieser Regierung in Frage gestellt und es gab auch von Dr. Gusenbauer Anschlußargumenttationen in diese Richtung.

Charim: Was Konrad Paul Liessmann gesagt hat, da gibt es mehrere Punkte: Zum Begriff der Wendephilosphie. Man hat sich durch aggressives Austeilen psotioniert, indem man sagt, das was andere machen sei Kasperliade und man sich einiges gefallen lassen muss wie die Bezeichnung Hysteriker, gnadenloses Gutmenschentum, das ist schon bemerkeneswert. Bei der Frage der Legalität und Legitimität halte ich die Darstellung, wir hätten sozusagen nur die Fortsetzung des Gewohnten mit schlechteren oder besseren Mitteln, also dass es hier eine Kontinuität gibt, für nicht richtig, Ich behaupte, es gibt einen Bruch. Die Legitimität der Regierung beziehungsweise, dass die Legitimität dieser Regierung in Frage gestellt wurde, hängt nicht mit den Taten dieser Regierung zusammen, sondern mit zwei wesentlichen Punkten: Es wurde die Legitimität dieser Regierungsbildung in Frage gestellt - und das ist keine juristische Kategorie gewesen. Es ist auch nicht das Problem, dass Schüssel die Wähler sozusagen betrogen hat, wie das immer wieder dargestellt wurde, weil er vor der Wahl etwas anderes gesagt hat. Das sind sozusagen miesere Strategien. Der Punkt ist auch nicht der, dass man sagt, man spricht einer Regierung die Legitimität ab, weil einen selber nicht gefällt, sondern es ist darum gegangen, dass bei dieser Regierungsbildung eine Partei beteiligt war oder ist, die zum Programm ihrer Politik gemacht hat eine bisher bestehende Legitimität zu verletzen, zu übertreten und eine neue Legitimität herzustellen.

 

Das ist absolut das Programm der FPÖ, seit ihrem Antritt. Deshalb konnte die Diskussion um die Legitimität schon beim Antritt entfacht werden, weil es schon auf der Ebene der Regierungsbildung dieses Problem gegeben hat. Der dritte Punkt, der angesprochen wurde mit der Frage, ob sich der Widerstand dann jenseits der Legalität bewegen kann: Ich würde sagen, diese Frage hat sich nie gestellt.

Liessmann: Das ist falsch, falsch.

Charim: Darf ich bitte ausreden. Es ist immer nur darum gegangen, dass es hier um eine grundlegende Umstrukturierung der österreichischen Gesellschaft geht. Das war das Ziel und insofern ist es kein normaler Regierungswechsel, sondern ein Bruch.

Standard: Herr Gusenbauer, auch Sie haben die Legitimität der Regierung bezweifelt.

Gusenbauer: Für mich ist die Kernfrage, was darf eine Regierung oder wo sind Grenzen des Handelns auch bei parlamentarischen Mehrheiten gegeben. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass parlamentarische Mehrheiten, solange sie nicht an grundsätzliche, formale verfassungsrechtliche Grenzen stoßen alles tun dürfen. Diesen Standpunkt kann man vertreten. Ich teile diesen Standpunkt nicht. Ich glaube, dass sich Demokratie nicht darin erschöpft, dass es parlamentarische Mehrheiten gibt, die zu allem berechtigt sind. In der Demokratie gibt es auch einen ungeschriebenen Grundkonsens, der in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich ausformuliert ist. Der auch bei Veränderung von demokratischen Mehrheiten erhalten werden muss. Und eine Einschätzung dieser Regierung ist, dass es ohne einen großen gesellschaftlichen Diskurs gegeben hat, mit dieser Regierungsbildung doch eine sehr fundamentale Veränderung der österreichischen Gesellschaft eingeleitet wurde, die in diesem Ausmaß nie öffentlicher Diskussionsgegenstand gewesen ist. Das geht über das Maß hinaus, was parlamentarische Mehrheiten ohne gesellschaftlichen Konsens und Diskurs verändern dürfen sollten. Es wird in der Debatte immer darauf hingewiesen, Österreich wäre jetzt Teil der europäischen Normalität geworden, weil es jetzt endlich eine Konfliktdemokratie gäbe. Ich halte diese These empirisch für falsch. Zu sagen die Normalität Europas besteht in der Konfliktdemokratie unter Ausschaltung andere gesellschaftlicher Konkordanzmechanismen ist schlichtweg falsch. Wir haben eine Reihe von europäischen Gesellschaften, die unterschiedliche Konkordanzmechanismen gesellschaftlich vereinbart haben und zwar neben oder außerhalb des Funktionierens parlamentarischer Demokratie und sind dabei überaus erfolgreich.

Wenn man Staaten hernimmt, die in den letzten Jahren erfolgreiche Transformationen durchgemacht haben wie z. B. Finnland oder die Niederland, dann wird man bemerken, das das politische Systems sind, wo vorher Nichtkonkordanzmodelle vorhanden waren und wo man sie eingeführt hat, um auf einem breiten Konsens die Modernisierung der Gesellschaft zu formulieren. Das heißt, die These, westeuropäische Normalität wäre die Konfliktdemokratie und Österreich reiht sich jetzt in dies vermeintliche Norm in Europa ein, ist empirisch nicht haltbar. Was diese Regierung derzeit macht, was beim Budget zum Ausdruck gekommen ist plus Umgang mit Staat und Recht, mit der Spitzelaffäre mit dem Verhalten zur Unabhängigkeit der Justiz mit den Aussagen eines Justizministers was den Spielraum der Opposition betrifft, respektive deren strafrechtliche Einschränkungen, Das sind Vorschläge und teilweise gesetzliche Veränderungen, die in weiteren Bereichen nicht nur ein Abgehen, sondern einen Bruch bisheriger demokratiepolitischer Traditionen in Österreich beinhalten, ohne dass über dieses Ausmaß der Veränderung eine explizite Zustimmung bei einer Wahl gegeben hätten.

Standard: Was allerdings noch nicht die Frage nach der Legitimität beantwortet.

 

Liessmann: Ja, was berührt das eigentlich? Da vermischt sich ja die Sache. Die Differnez von Legalität und Legitimität hat natürlich schon etwas mit der Frage der Geseztlichkeit und Gesetzmäßigkeit zu tun. Etwas als illegitim zu bezeichnen, zumal es sich dabei um sehr diffuse Begriffe handelt, worüber es keine allgemeine Mehrheit oder eine allgemeine Diskussion darüber gibt das ist mir zu schwammig und unpräzise. Angesichts des in der Staatstheorie sehr schwergewichtigen Begriffs der Legitimität korreliert werden zu können. Ich teile übrigens die Anmerkungen zur Normalität. Ich war nie ein Vertreter dieser Normaliserungsthese. Weil ich diesen Begriff überhaupt für unsinnig halte und zwar in Bezug auf alle europäischen Staaten der Union. Ich wüsste nicht, was hier normal ist. Jede dieser Staaten hat ihre eigene Geschichte und auf seine eigene Art und Weise mit Modernisierungsschüben umzugehen aufgrund seiner eigenen Traditionen. Ich wüsste nicht, was hier der Normalfall sein soll. Sind es die Niederland, ist es Frankreich, das ja aufgrund seines etatistischen Ideals ganz anders mit diesen Problemen umgeht, ist es Engalnd, dies die brutale Roißkur des Thaterismus schon hinter sich hat und auf der die Sozialdemokratie zum Teil aufbauen kann, ohne die ärgsten Brutalitäten der thateristischen Privatisierungskampagen auch nur andeutigungsweise zurückzunehmen.

Oder Spanien und Italien, die wieder ganz anders ausschauen Ist es der Weg, den Deutschland geht, wo wir das Paradoxon haben, dass wir eine rot-grüne Regierung haben, die de facto in vielen Bereichen dasselbe macht wie die österreichische schwarz-blaue Regierung. Was ist hier die Norm? Ich sehe das weder in der historischen Perspektive nicht und auch nicht in der Art und Weise, wie Probleme bewältigt werden. Ich sehe nur unterschiedliche Traditione, unterschiedliche Zugangsweisen. Unterschiedliche Möglichkeiten aufgrund der differenten Situationen mit ähnlichen Problemen und gleichen Problemen umzugehen. Ich würde schon sagen, dass es hier Modelle gibt, die Erfolg versprechender sind. Ich denke hier an das Modell Niederlande. Das kann man sich anschauen. Das Modell England halte ich nicht für so wahnsinnig aufregende, dass man es kopieren müsste. Darüber kann man durchaus diskutieren. Was ich nicht sehe, ist der große dramatische Bruch. Ihre Ausgangspunkt ist ja, ob Parlamentarier alles dürfen, was der formale Rahmen des Gesetzes zulässt. Meiner Auffassung nach gibt es kein Gesetz, das nur formal ist. Und damit Parlamentarier nicht alles können, was sie rein formal könnten gibt es ja auch Schranken zum Beispiel die Zwei-Drittel-Mehrheit. Gravierende Änderungen sind aufgrund unserer Verfassung ja mit der einfachem Mehrheit nicht zu machen, die die ehemalige große Koalition pausenlos missbraucht hat. Das andere ist, dass eine moderne Gesellschaftlich die von so vielen Faktoren beeinflusst wird, ich denke an Technik, ich denke an Ökonomie, wenn so eine Gesellschaft sich binnen von drei Monaten ändert, nur weil wir eine andere Regierung habe, dann haben wir ein völlig falsches Bild einer Gesellschaft oder wir schreiben der Regierung eine Wirkmächtigkeit zu, die ich so nicht sehe, Was nicht bedeutet, dass eine Regierung ein Diskussionsklima oder eine Meinungsklima verändert, das eine Regierung Positionen besetzen kann und damit Schlüsselpositionen in der Wirtschaft in den Medien und damit manipulieren kann. Ich sehe aber nicht, dass das neu wäre. Ganz im Gegenteil. Ich darf daran erinnern und ich war damals ein verfechter dieser Entwicklung, dass die Regierung Kreisky I Und Kreisky II angetreten ist, genau mit dem Anspruch über den Parlamentarismus hinaus die Gesellschaft zu durchlüften und sie zu demokratisieren. Auch gegen den Widerstand breiter Teile der österreichischen Bevölkerung, die eher konservativ und traditionelle eingestellt waren.

 

Die haben ja mit Entsetzten auf die ersten Reformvorhaben reagiert und bis heute ist nicht alles konsensfähig an dieser Politik. Das heißt also, was mich interessiert mit welchen empirischen Methoden gehen wir heran um festzustellen, ob sich nicht innerhalb eines Jahres tatsächlich eine gesellschaft verändert durch tatsächliche Regierungspolitik. Ich sehe das mindestens genauso in anderen Bereichen, die mit der Regierungspolitik nichts zu tun haben, sondern von der Regierungspolitik nur gebremst oder verstärkt weden könne. Hier empfinde ich die Kontinuitäten ja als wesentlich peinlicher als die Brüche. Ich sehe das in der Bildungspolitik, wo nichts wesentlich anderes geschieht als früher oder in der Sozialpolitik. Vieles was unter Reformvorhaben verhandelt wird, das ist ja schon vorher herumgespukt. Die Reform der Sozialpartnerschaft, das wird seit zwanzig Jahren diskutiert. Ich sehe auch nicht bei den außerparlametarischen Konsensmechanismen den großen Bruch. Ich sehe Akzentverschiebungen, manche sind sympathisch, etliche unsympathisch aber ich sehe nicht den dramatischen Bruch, der Begriffe wie Legitimitätskrise und dergleichen mehr zulassen würde.

Charim: Zuerst möchte ich micht wehren gegen den Vorwurf, das sei ein schwammiger und vager Begriff. Noch einmal: Der Begriff der Legitimität ist nicht ein reiner politischer Begriff.

Liessmann: Nicht rein...

Charim: Laß micht jetzt auch einmal zu Wort kommen, ich habe lange genug zugehört, Der Begriff der Legitimität steht an einer Schnittstelle zwischen Recht und Politik. Was hier in Frage gestellt wurde war ja die politische Legitimität, weil davon ausgegegangen wurde. Was heißt das? Politische Legitimität das sind die Verhältnisse, die den Glauben an die Rechtmäßigkeit, die Anerkennungswürdigkeit beziehungsweise die Zustimmung zu einer Regierung sich herstellt. Genau in diesem sensiblen Bereich haben die Freiheitlichen eine größer Veränderung hergestellt und sind nach wie vor dabei diese vorzunehmen. Die Gründe für die Akzeptanz einer politischen ordnung haben sich grundlegend verändert und sind auch, das ist intentionale Politik der Freiheitlichen gewesen, diese Art der Akzeptanz zu verändern. Das ist ja ein völlig gängiges populistisches Verfahren, dass man bestehende Legitimitäten und bestehenden Konsens überschreitnt, um einen grundlegenden Dissenz zu konstruieren, um neue Forem der Zustimmung herzustellen. Wo man meiner Meinung nach sehr deutlich geworden ist zeigt sich an allen Verhandlungen mit den Gewerkschaften. Sie haben über die reine sachliche Verhandlung hinaus auf einen grundlegenden Dissens hinausgelaufen. Das Problem ist, dass immer wider versucht wurde diesen politischen Akteuren ihre Berechtigung als solche anzusprechen. Das ist für mich das grundlegende Problem und das ist für mich auch die Veränderung. Das kommen wir auch auf einen entscheidenden Unterschied. Ich glaube, man überschätzt die Wirkmächtigkeit der Regierung nicht. Ich glaube, man muss das in einem ganz sensiblen Bereich festmachen. Das ist keine Art Schattentheater. Wenn man die Demokratie ernst nimmt, muss man es auch ernst nehmen, dass es eine Bühne gibt, auf der die Konflikte ausgetragen werden. Das ist natürlich bestimmend für die Verfassung einer Gesellschaft und der zweite Punkt ist, dass sich sehr wohl eine große gesellschaftliche Veränderung in Österreich bemerkbar macht. Es gibt eine tiefgreifende Polarisierung in der Gesellschaft und ich sehe nicht, dass sie zurückgeht. Ganz im Gegenteil, die Gräben haben sich absolut vertieft und es gibt keine Annäherung, im Gegenteil.

Standard: Sie haben ursprünglich die Frage der Legalität und Legitimität auch an der Haltung der FPÖ zur NS-Vergangenheit festgemacht. Jetzt argumentieren sie mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Differenzen.

Charim: Das ist nach wie vor meine Argumentationslinie. Das Problem der FPÖ besteht darin, dass sie die Überschreitung des Grundskonsenses darstellt. Die Legitimität will ich sicher nicht aufgrund einer moralischen Überlegenheit jenseits der Legalität formulieren. dass man das so verstehen muss, dass wir mit einer historisch gewordenen Legitimität konfrontiert sind. Dass die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus in einer ganz bestimmten Situation stehen, die man nicht vergleichen kann mit der Zeit davor. Der Glaube an den reinen Positivismushat eine historische Widerlegung erfahren und damit haben wir auch eine Grenze der Demokratie erfahren. Dieser Grundkonsens hat die Zweite Republik bestimmt und er wird nun in Frage gestellt und verändert.

Liessmann: Ich sehe das nicht so. Die Grenze der Demokratie ist erreicht, wenn bewaffnete Formationen auf der Straße demonstrieren und die Regierung stürzen wollen, wenn es Aufstände und Chaos gibt und wenn ein Parlament sich selbst auflöst, wenn mit Notverordnungen diktatorisch regiert wird. Ich weigere mich, dass Positionen politischer Natur, die aus sehr guten Gründen verurteilenswert sind, also was sich auf der Ebene des politisch-moralischen Diskurses abspielt, wenn dies jetzt zum Indiz dafür genommen werden, dass die Grenzen der Demokratie erreicht wird. Dann wäre Amerika die Nichtdemokratie schlechterdings. Todesstrafe lässt sich in unserer Gesellschaftsordnung, mit der Grundlage der Menschenrechte in keiner Weise vereinbaren. Aber niemand zweifelt daran, dass Amerika eine Demokratie ist. Ich sehe bei allen Bedenklichkeiten bei allen Entgleisungen der Regierung in grundsätzlichen Fragen des Beachtens der demokratischer Ordnungen sehe ich keinen Bruch.

Sofort verschwunden ist der Böhmdorfersche Ansatz, Regierungskritiker zu kriminalisieren. Man muss schon unterscheiden, ob jemand etwas denkt oder ob es tatsächlich in Gesetze gegossen wird und dann wirkmächtig wird. Demokratie besteht nicht darin, das es das perfekte Volk und moralisch integre Regierungen gibt. Die Idee der Demorkatie war immer, zu wissen, dass natürlich Macht korrumpiert und dass natürlich moralisch vollkommen indikutable Subjekte Regierungsgewalt bekommen können. Demorkatie geht seit Toquville nie davon aus, dass die Besten regieren s ollen, das war das platonische Ideal. Sondern gerade weil wir wissen, dass es die korrumpierbaren und in keiner Wiese moralisch geeigneten Subjekte geben kann an den wichtigsten Positionen, war die Idee der Demokratie immer, dass die Kontrollmechanismen funktionieren müssen, sowohl die parlamentarischen selber als auch jene in der Öffentlichkeit. Da sehe ich im Moment in Österreich nicht die Gefahr, dass sie erstens leicht außer Kraft gesetzt werden könne oder Ansätze, dass sie außer Kraft gesetzt werden.

Das betrifft auch das Verhältnis Regierung und Gewerkschaft. Wir hatten die Sondersituation durch die enge Verflechtung zwischen SPÖ und Gewerkschaft, dass über Jahrzehnte eine enge Verflechtung zwischen Regierung und Gewerkschaft gegeben hat. Dass eine rechtskonservative Regierung am liebsten keine Gewerkschaften hätten, ist klar. Das ist aber eine inhaltiche Position, die Liberale aller Coleurs immer vertreten habe.

 

Gusenbauer: Man muss drei Ebenen unterscheiden. Die eine ist der grundsätzliche Frage der grenzen der Demokratie oder wie ich es formulieren würde die grenzen der Mehrheitsregeln, was ein Unterschied ist. Diese Diskussion haben wir seit 15 Jahren. Sie ist in den 80-er Jahren von Guggenberger und Offe mit ihrem Buch "Grenzen der Mehrheitsregeln" aktualisiert worden. Seinerzeit in erster Linie aus der Debatte der Ökologiebewegung kommen, wo die Frage angesprochen wurde, ob es Grenzen der Mehrheitsregel gibt und endet Wirksamkeit der Mehrheitsregel dort, wo die Menschen den Eindruck haben können, dass sie existenziell gefährdet werden. Dass die inhaltliche Definition dieser Frage in einzelnen Gesellschaften unterschiedlich ist, ist klar. Weil es einen westeuropäischen Konsens darüber gibt, dass die Einführung der Todesstrafe über die Grenzen der Mehrheitsregel hinaus geht, obwohl es in den USA angewandetes und gelebtes Recht ist und die USA trotzdem unter dem Siegel der Demokratie segeln. Das heißt, die inhaltliche Definition der Grenzen der Mehrheitsregeln hat unterschiedliche historische und kulturelle Traditionen. Ich halte aber den Gedanken im Ansatz, dass es Grenzen der Mehrheitsregel gibt, für richtig. (..)

Es ist zwar richtig, dass es bei dem Vorschlag Haiders und Böhmdorfers zur strafrechtlichen Verfolgung der Opposition einen öffentlichen Aufschrei gegeben hat, und das dann nicht statt gefunden hat. Was aber nichts an der Intention der Regierenden oder eines Teiles der Regierenden geändert hat. Die Intention gesellschaftlicher Gegenkräfte einzuschränken oder letztendlich auch zu zerstören, dass diese Intention auf unterschiedlichsten Ebenen vorhanden ist. Das war nicht nur der Vorschlag der strafrechtlichen Verfolgung der Opposition, das ist der versuchte Zugriff auf den ORF in einer außerordentlich totalitären Form, das ist der Versuch der beim Hauptverband der Sozialverischerungsträger, wo es darum gegangen ist, Selbstverwaltung außer Kraft zu setzten und ein Durchgriffsrecht des Ministers zu schaffen. Das artikuliert sich in der Auseinandersetzung um die Spitzelaffäre, wo natürlich der Versuch unternommen wurde, durch eine massive Einschüchterungskamapge der ermittelnden Beamten, dass mögliche Fahndungsergebnisse nicht gefunden werden. Das heißt, es ist versucht worden über ein öffentliches Mobbing die Wirksamkeit rechtsstaatlicher Mechanismen zu beeinträchtigen. Oder in Kärnten gibt es eine öffentliche Mobilisierung gegen Menschen, die Kritik wagen, wo es nicht nur darum geht, dass eine Regierung versucht mit ihrer Mehrheit Veränderungen in ihrem Sinn herbeizuführen, sondern gleichzeitig die Möglichkeit der öffentlichen Kritik und der gesellschaftlichen Kräfte einzuschränken. Das ist eine andere Qualität, die man in diesem Zusammenhang berücksichtigen müssen, auch wenn ich sage, dass das nicht alles gelingt. Aber das ändert nichts an der Intention.

Liessmann: Ich habe ein anderes Menschenbild als Sie. Ich gehe prinzipiell davon aus, dass der Mensch schlecht ist, Sie sind egoistisch, machtgierig und niemand hat gerne Kritiker.

Gusenbauer: Ich schon. Ich liebe meine Kritiker.

Liessmann: Dann sind wir ja in einer wunderbaren Situation, da ich gerne kritisieren. Was Ihre Beobachtungen anlangt, die teile ich, aber ich zu anderen Schlüssen. Ich sehe Mechanismen der Machtakkumulation, die mir zwar nicht sympathisch sind, die mich aber nicht überraschen. Es sind aber die parlamentarischen und gesellschaftliche Gegenkräfte stark genug, dass sie hier bremsend und konrollierend wirken können. Dass das alles passiert, überrascht mich nicht, aber ich glaube, die Probe der Demokratie ist nicht, ob alle Regierungsmitglieder Edle sind, sondern die Probe ist, ob die Kontrolle funktioniert. Das Wesen besteht ja auch darin, dass es in drei Jahren wieder Wahlen gibt. Das ganze Gerede darüber, auf wie viel Konsens in dieser Gesellschaft die Regierung stößt, wird ja dann definitiv entschieden werden. Wenn eine breite Mehrheit der Bevölkerung damit nicht einverstanden wird, bekommt diese Regierung halt keine Mehrheit.

Zu den Grenzen der Mehrheitsregeln, die gibt es natürlich. Nur wenn es vergelicht an Hand welcher Beispiele das diskutiert wurde, am Beispiel der Atomraketen, da ging es um ganz andere Fragen, nämlich um die Selbstauslöschung der Menschheit. Das kann man nicht einfach sagen, wir machen einen Mehrheitsbeschluß ähnlich wie in der Frage, ob ich den Rundfunkintendanten auswechseln will. Das werfe ich jenen vor, die sich moralisch aufrüsten angesichst von Problemen, die im Vergleich dazu gering sind, weil man sich dadurch in der Kritikfähigkeit auch schwächt.

Gusenbauer: Bei aller meiner Kritik an der Regierung vergleiche ich die Regierung nicht mit der potentiellen Gefahr eines Atomkriegs. Aber die Frage nach den Grenzen der Mehrheitsregel ist eine dynamische. Was aber auffällig ist, dass es in erster Linie den Versuch gibt der Diskreditierung jener, die die Regierung kritisieren. Wenn man sagt, zur Demokratie gehören auch jene, die die Regierung kritisieren, aber sich dann die Kritik auf die Kritiker konzentriert, dann habe ich den Eindruck, dass hier der Maßstab verloren gegangen ist. Wenn man alle, die gegen die Regierung und zwar aus unterschiedlichen Gründen demonstrieren als antifaschistischen Karneval sieht, dann hat das wenig mitwissenschaftliche Präzision, nichts mit empirischer Richtigkeit zu tun und es erhebt sich die Frage, welche politische Intention steht dahinter.

Charim: Bei der Debatte um die Grenzen der Mehrheitsregeln, kann man es sich nicht so leicht machen. Wir haben eben die Nationalsozialistische Erfahrung gemacht und die hat eben das Demokratiekonzept verändert. Natürlich funktionieren die Freiheitlichen wesentlich raffiniert als eine Neonazi-Skingruppe. Sonst wäre es sehr leicht. Aber es bewegt sich alles in den Grauzonen, die legal nicht erfasst werden können. Daher ist es eben nicht ein rechtliches, sondern ein politisches Problem. Man kann das nicht an den reinen, harten Fakten festmachen.

Standard: Wo sind die Akzeptanzen überschritten?

Charim: Hundertmal im Überschreiten des österreichischen Grundkonsenes der Zweiten Republik im Hinblick auf die Vergangenheit. Ich verwehre mich auf das Heftigste, dass das ein politisch-moralischer Diskurs sei. Das ist nämlich der Versuch eines Abkanzelns. Es gibt nämlich kaum einen Begriff, der so gelitten hat wie jener der Moral.

Liessmann: Dafür sind aber die Moralisten verantwortlich.

Charim: Lassen Sie mich aussprechen. Da gibt es die unzulässige Unterscheidung zwischen den Moralisten einerseits und auf der anderen Seite die ganz pragmatischen Politiker, die sich innerhalb der vorgegeben Regeln gut verhalten, das ist eine völlig absurde Unterscheidung.

Standard: Die Antimoralisten haben also eine neue, eben ihnen gerechte Moral des beliebigen Pragmatismus formuliert.

Gusenbauer an Liessmann: Wer sind Ihrer Auffassung nach überhaupt die Moralisten?

Liessmann: Ich kann jetzt von ganz oben beginnen. Der Maßnahmenbeschluss der EU 14 war eine rein moralisch argumentierte Aktion, weil argumenbtier wurde mit dem Verstoß der Wertegemeinschaft. Der Wert ist ein zentraler Begriff der moderenen Moral, obwohl er aus der Ökonomie kommt, wo er auch bleiben sollte. Da geht bis zu jenen Kritikern der Regierungsbildung, die sagen, sie sei zwar legal, aber eben nicht legitim und ein Bruch des gesellschaftlichen Konsens.

Gusenbauer: Ich möchte präzise unterscheiden zwischen Moral, moralisch und moralistisch. Politik ohne Moral, darüber glaube sich sind wir uns einig bewegt sich auf ein gefährliche Terrain. Wenn es Ihnen aber um die Moralisten sind, dann reden wir von jeden, die eine Überhöhung der Moral in einem Ausmaß betreiben, die alle anderen Aspekte außer Acht lassen. Die gesamte Kritik an der Regierung unter dem Begriff des Moralisten abzutun, erachte ich für keine scharfe Bewertung dessen, was passiert ist.

Liessmann: Ich glaube, dass die Kritik an der Regierungsbildung hauptsächlich nur moralisch war. Es gab ja keine anderen Argumente. Das hat sich zu 80 Prozent als haltlos erwiesen.

Charim: Wieso hat sich das als haltlos erwiesen?

Liessmann: Ich interpretiere den Weisenbericht zumindest in diese Richtung.

Charim: Ja, aber das ist wirklich nur Interpretation.

Liessmann: Im Hinblick auf das, was die politisch-praktischen Konsequenzen waren. Ich will keine Politiker haben, die moralisch sind, sondern ich will solche haben, die in einem hohen Maße daran gehindert werden, unmoralisch zu sein. Der ständige Hinweis auf die Erfahrung mit Austriofaschismus und den Nationalsozialismus, ich weiß jetzt begebe ich mich auf dünnes Eis, ist aber unter Umständen ein strangulierendes Argument. Ich glaube, dass die Probleme der Demokratie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten so gewandelt haben, dass die eigentlichen Punkte der Krise und der Gefährdung der Demokrtaie ganz wo andere liegen.

 

Ich glaube, und das ist ein Satz von Nietzsche, dass es ein Maß an historischem Sinn gibt, der den Blick verstellt für die Probleme des aktuellen Lebens. Das trifft bis zu einen gewissen Grad auch jetzt zu. Wir schauen und das ist bis zu einem gewissen Grad auch notwendig auf die Vergangenheit, und das ist auch sinnvoll und notwendig, und sind gebannt von der Gefahr, dass sich das wiederholen könnte. Durch diese Blickrichtung könnten wir aber übersehen, dass die Gefahr von einer ganz anderen Seite kommt. Zum Beispiel über die Medienkonzentration in Österreich. Die natürlich ein ganz anderes zu bewerten ist als die Ereignisse von März 1938.

Gusenbauer: Einen Einwand. Es gibt keinen Ausbruch aus der Geschichte, Wenn eine Partei dies als Teil ihres politischen Programms den historischen Revisionismus in sich trägt wie die FPÖ an die Regierung kommt, dass es natürlich eine bedeutend größere Aufmerksamkeit für den historischen Revisionismus gibt, ohne gleichzeitig wegwischen zu wollen, dass die modernen Herausforderungen an die Demokratie in anderen Bereichen liegen. Nämlich im Bereich der Medienkonzentration als ein Beispiel oder überhaupt in der Fragestellung, was durch demokrtaische Entscheidungsmechanismsen überhaupt noch beeinflusst werden kann. Es müssten natürlich die Frage der globalen Ökonomie und der europäischen Demokratie in erste Linie auf der Tagesordnung stehen müsste. Aber ich verstehe den relativ starken Vergangenheitsbezug deshalb, weil eine Partei, die mit historischem Revisinismus angetreten ist, nun an der Regierung ist.

Charim an Liessmann: Die Vergangenheit ist nicht so vergangen, wie Sie sie darstellen. Natürlich ist es eine Gefährdung der Demokratie. wenn eine Partei an die Regierung kommt, die erklärt, was wir hier seit dem Zweiten Weltkrieg erleben ist sozusagen Fremdherrschaft, der wir uns entledigen müssen. Da geht es um die rede von den Altaprteien, die sozusagen von den Aliierten eingesetzt wurden. Das ist ein durchgängiges Konzept der Freiheitlichen, Das heißt, hier geht es nicht um die Vergangenheit als vergangen, sondern es wird mit der Vergangenheit gegenwärtige Politik betrieben und zweitens werden alle die Kategorien, auf die zurückgegriffen wird, eingeführt in gegenwärtige Politik. Man spricht von der neoliberlane Wende in Österreich, das ist es aber nicht. Zuerst ist es nur Chaos mit einer tolpatischen Inszenierung. Das ist natürlich traurig, weil es Schaden anrichtet. Aber abgesehen von Chaos treten viele Kategorien, die mit den Vergangenheistbildern zu tun haben in die aktuelle Politik und best immen sie ja auch. Es geht nicht darum, dass man rückwärtgewandt auf ein Stifungsmoment starrt, sondern wir haben es mit einer lebendigen Fortschreibung der Vergangenheit zu tun. Der antifaschistische Konsens war natürlcih brüchig und wurde immer wieder in frage gestellt, aber er wurde - wie löchrig auch immer - aufrecht erhalten, weil das die Geschichte war, die letztlich die Zweite Republik begründet hat.

Liessmann: Die Diskussion läuft ja ganz anderes. Der antifaschistische Grundkonsens wurde sozusagen als Staatsdoktrin verkündet und ist unter der Hand von den Großkaolitionären löchrig gemacht worden. Das hat natürlich immer bedeutet, mit Kontinuitäten leben zu müssen. Wenn man schon so argumentiert, hat der Grundkonsens zwei Seiten gehabt. Die eine: Wir sind Antifaschisten mit Rückgriffe auf die Moskauer Deklaration, die andere wir wir haben versucht aus den Kontinuitäten auch noch augenzwinckernd ökonomischen Nutzen geschlagen, siehe die Restitutionsfrage. So einem Grundkonsens traue ich nicht nach.

Charim: Das ist eine interessante Formulierung. Sie trauern etwas nach, das Ihrer Meinung nach nicht bestanden hat.

Liessmann: Einen Grundkonsens der Mythologisierung. Gerade linke Historiker haben den antifaschistischen Grundkonsens systematisch dekonstruiert.

Gusenbauer: Wenn man feststellt, dass dieser antifaschistischer Grundkonsens im jedem Fall ein imperfekter war und man sagen kann, er war in verschiedenen bereichen nur Mythologie oder unter der Hand, dann war Österreich ja nicht nur Akteur, sondern auch Objekt der Geschichte. Dass es nicht stärker dazu gekommen ist, hat zum einen auch mit dem Kalten Krieg zu tun und dass Österreich ein Spielball der damaligen Kräfte war. Die Frage ist aber, wenn man dem nicht nachtrauert, was soll an Stelle dieses Konseses treten oder ist es im Sinne eines verspäteten Aufarbeitens der Geschichte wenn auch spät, so doch Konsequenzen aus der Geschichte zu ziehen. Gehen jetzt diese Konsequenzen in Richtung des historischen Revisionismus, wie er von der FPÖ vertreten wird oder geht er in Richtung einer nachholenden Demokratisierung, wie es in Deutschland durch das Grundgesetz schon früher stattgefunden hat.

Liessmann: Das sind verschiedene Frage, warum es in Österreich nie zu so einem Grundgesetz gekommen ist, das ja in deutschland selbst mit Zweit Drittel-Mehrheit nicht außer Kraft gesetzte werden kann. Ich kann mir eine Rekonstruktion der Verfassung vorstellen.

Charim: Nur kurzer Einschub, warum kam es zur Präambel, die Klestil den Regierungspartner diktiert hat. Es war genau der hilflose Versuch, in dieses Defizit hineinzuagieren.

 

Liessmann: Und das andere ist die Frage der politischen Aktualisierung von Vergangenheitsrekonstruktionen. Natürlich gibt es Kontinuität und die Vergangenheit wird auch politisch eingesetzt. Aber bei der Regierungsarbeit sehe ich nicht den großmächtigen Versuch eines wirklichen historischen Revisionismis Der würde ganz anders aussehen. Gerade weil die Einflussmöglichkeiten von nationaler Politik immer geringer werden erhöht sich bei den Protagonisten der Regeriung als auch bei Kritikern der Regierung auf symbolischer Ebene zu agieren. Wir lieben die Vergangenheit, weil wir keine Zukunft haben beziehungsweise sie uns nicht zutrauen.

Gusenbauer: Das halte ich für fundamental falsch. Ich halte es auch für falsche, dass die Politik immer weniger Möglichkeiten hat. Nationalsaatliche Politik hat zwar weniger Möglichkeiten, daher findet der politische im Nationalstaat immer mehr auf symbolischer Ebene statt. Mich interessiert aber die Vergangenheit wegen der Schlüsse für aktuelles und künftiges politisches Handeln ziehe ich daraus. In Österreich gibt es diesbezügliche Defizit und dann stellt sich die Frage, wie wir zu einer modernen Form des Verfassungspatriotismus kommen. Das halte ich für bedeutend zivilisierte als das, was wird derzeit haben. Und diese Frage stellt sich im Kontext mit der europäischen und globalen Frage. Man wird diesen Verfassungspatriotismus in einen europäischen Maßstab stellen müssen.

Charim: Ich möchte eine Lanze für die viel geschmähte symbolische Ebene brechen. Die wirklichen Fragen und die symbolischen Ebenen sind nicht total getrennt. Es werden nämlich so kollektive Identitäten gestiftet, die sehr wohl wirklich wirken.

Liessmann: Ich sage ja nicht, dass man das eine gegen das andere austauschen soll. Die Konstruktion der Vergangenheit ist natürlich entschiedend, aber nur weil eine Partei die Vergangenheit so konstruiert, wie wir sie als nicht tolerabel empfinden, ist die Demorkatie in Gefahr. Solche unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten muss es auch in einer postnationalsozialiastischen Demokratie geben. Das große Gefahrenpotential ist nicht gegeben.

Charim: Ja und nein. Das Problem der Freiheitlichen ist es ja gerade, dass sie genau mit dem Überschreiten Politik macht und dass das ein Gefahrenpotential ist, liegt auf der Hand. Das Problem ist, dass es so zu einer Aushöhlung der Demokratie kommt. Weil eben die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt.

Gusenbauer: Die Demokratie unterliegt verschiedenen objektive Errosionsprozessen. Was in Österreich dazu kommt ist eine Partei, die mit an der Regierung beteiligt ist, die FPÖ, die ein brüchiges Verhältnis zur Demokratie hatund damit gibt es einen zusätzlichen Protagonisten, der Errosionsprozesse fördert. Dennoch sehe ich die Demokratie in Österreich nicht in Gefahr, aber es ist größere Wachsamkeit geboten.