Es wäre ein Höhepunkt in der Geschichte der Wiener Freud-Gesellschaft geworden, wenn Edward Said wie geplant am 6. Mai über Sigmund Freuds Auffassung antiker Kulturen gesprochen hätte. Said ist ein Weltstar unter den Kulturwissenschaftern, und nicht erst seit dem Erscheinen seiner Autobiografie Am falschen Ort ist klar, dass seiner Kritik des Orientalismus eine teilweise quälende Selbst-analyse zugrunde liegt, deren Kehrseite ein heftiges Sendungsbewusstsein ist.

In Freud, der eine legendäre Antikensammlung zusammentrug, hätte Said ein höchst interessantes Objekt gefunden. Nun kommt es aber nicht zu dem Vortrag, jedenfalls nicht in Wien. Said wurde von einem Bild eingeholt, das schon im Vorjahr für Aufsehen sorgte und dessentwegen ihn die Freud-Gesellschaft wieder auslud. Kamel Jaber von Associated Press erwischte den prominenten Palästinenser im Vorjahr an der Grenze des Libanon zu Israel, als er gerade dazu ausholte, einen Stein zu werfen: Ein archetypisches Bild eines Intellektuellen, dessen Engagement praktisch (und zumindest potenziell) gewalttätig wird.

Said hat seinen Steinwurf später als "symbolisch" entschuldigt, aber der Symbolwert des Bildes war ja gerade dessen Qualität. Man konnte darin die Radikalisierung eines Mannes sehen, der aus seiner Kritik am Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern nie ein Hehl gemacht hatte.

Said setzte alle Hoffnungen in eine neue palästinensische "Massenbewegung gegen die israelische Apartheid"

Kurze Zeit später, im Oktober 2000, schrieb Said einen Kommentar - Die Wut und ihr Recht - zu diesem Thema. Er prognostizierte eine "israelische Einheitsregierung, die noch gewalttätiger und repressiver vorgehen wird". Die Politik von Yassir Arafat beschrieb er als "korrupt" und "dümmlich-repressiv", während er alle Hoffnungen in eine neue palästinensische "Massenbewegung gegen die israelische Apartheid" setzte. Zum Stichwort für diese Bewegung wurde der Begriff von der "zweiten Intifada". In diese Intifada war Said durch Kamel Jabers Bild nun auch symbolisch integriert.

Die Entscheidung der Wiener Freud-Gesellschaft ist allerdings eine hysterische Reaktion und folgt allzu willfährig einer Logik der einsinnigen Überschätzung der Bilder, wie sie von den Massenmedien aus verständlichen Gründen befördert wird. Die New York Times hat den Steinwurf in einem reizvollen Wortspiel als "Freudsche Fehlleistung" bezeichnet: Die Fehlleistung Saids lag ja nicht so sehr darin, dass er an einem politisch exponierten Ort einen Stein warf, sondern dass er dabei fotografiert wurde.

Seine Positionen waren schon zuvor bekannt (sie können auch der Freud-Gesellschaft nicht verborgen gewesen sein), so wie man auch - um einen nahe liegenden Vergleich zu ziehen - um Joschka Fischers Vergangenheit schon vor dem Bekanntwerden der Bilder aus dem Frankfurter Häuser-kampf wusste. In dem Bild des prügelnden Spontis sah man nun tatsächlich eine Fehlleistung des allem Anschein nach sonst sehr kontrolliert agierenden Fischer. Aber Fischer ist als Politiker ja deswegen so erfolgreich, weil seine Sublimierungen so gut gelungen sind: Er hat eine Geschichte, und er hat sie zu einer Persönlichkeit integriert, an der noch eine gewisse Tiefenschärfe wahrnehmbar bleibt.

Das Bild des Literaturwissenschafters in der Pose des Revolutionärs

Für Said ist diese Bewegung der Integration das Lebensthema, in seiner Autobiografie spricht er von "Eruptionen aus dem Inneren", gegen die er ständig ankämpft. Das Bild des Literaturwissenschafters in der Pose des Revolutionärs auf den Barrikaden enthält auch eine Größenfantasie, die nicht nur durch die Selbstzensur geschlüpft ist, sondern - wie in einem paranoiden Alptraum - gleich weltweit übertragen wird.

Der Kurzschluss der Medien bei den meisten derartigen Bildern ist, sie nicht so sehr für ein Beweisstück zu halten (das zur Aufklärung beiträgt), sondern gleich selbst für das Urteil. Die Freud-Gesellschaft zumal sollte Bescheid wissen darüber, wie überdeterminiert jedes Bild ist. Indem sie Said ausgeladen hat, unterschlägt sie eine wertvolle Debatte mit einem Intellektuellen, dessen wissenschaftliche Positionen immer schon in hohem Maße von Leidenschaften geprägt waren. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13. 3. 2001)