Seit es das Kino gibt, wird es auch beschrieben. Jenseits der Leinwand führen Filme auch in Büchern ein beredtes Eigenleben, das nicht zuletzt den jeweiligen Stand der theoretischen Auseinandersetzung erhellt. Vor diesem Hintergrund ist es spannend zu verfolgen, wie ein- und derselbe Film in zwei aktuellen Publikationen auf höchst unterschiedliche Weise "lesbar" gemacht wird: Dr. Mabuse, der Spieler - ein Wiedergänger des Kinos. 1921 inszenierte Fritz Lang, basierend auf einem populären Sensationsroman von Norbert Jacques, damit den Auftakt zu einer ungewöhnlichen Trilogie in Etappen: Die erste Leinwandfassung der Machinationen des mysteriösen Doktors, der mittels hypnotischer Einwirkung auf Individuen, Börsenmanipulationen und Mordattacken die Weltherrschaft anstrebt, ist ein monumentaler Stummfilm. 1932 fand diese Erzählung mit Langs zweitem Tonfilm Das Testament des Dr. Mabuse eine Fortsetzung. Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse (1960) schließlich war der zweite und letzte Film, den der Regisseur nach seiner Rückkehr aus der Emigration in Deutschland drehte. Rechtzeitig zum Lang-Gedenkjahr - am 2. August jährt sich sein Todestag zum 25. Mal - hat nun der US-Filmwissenschafter Tom Gunning seine umfassende Studie der Filme von Fritz Lang vorgelegt (vorerst nur in englischer Sprache). Gunning, der mit seinem Konzept des "Attraktionskinos" maßgeblich am Projekt einer Neueinschätzung des frühen Kinos von seiner Erfindung bis in die 1910er-Jahre beteiligt war und unter anderem ein Standardwerk zu D. W. Griffith verfasst hat, versteht Lang als einen "Autor" und seine Filme als "Allegories of Vision and Modernity". Der Autor und seine Filme erschaffen sich dabei wechselseitig. Die Biographie des 1890 in Wien geborenen Regisseurs, der zunächst in Deutschland und nach seiner Emigration 1934 bis 1956 in den USA arbeitete, spielt zwar mitunter in die Werkanalyse hinein. Gunning betreibt jedoch, durch rund fünf Jahrzehnte und einundvierzig Filme, vor allem Motiv-Forschung: Dr. Mabuse, der Spieler wird einerseits in Zusammenhang mit der seriellen Aufbereitung der Machenschaften von Verbrecherorganisationen wie Fantômas oder Les Vampires gestellt. Zum anderen wird Langs Film als "Allegorie der Moderne" verstanden, als ein Bild der Langschen Weltsicht im Sinne einer "Geographie, die von einer konstanten Zirkulation von Botschaften, Boten und Nachrichtensystemen durchkreuzt und abgegrenzt wird". Eisenbahn, Taschenuhr, Telefon: Gunning nähert sich Mabuse in detaillierten Filmbeschreibungen etwa als einem "bösen Genie", das seine - scheinbar unbegrenzte - Macht im Raum dadurch entfaltet, dass es die Zeit sorgfältig mit den avanciertesten Medien und Technologien unter Kontrolle hält. Eine ganz andere Form, mit diesem Film zu argumentieren, hat der deutsche Literaturwissenschafter Stefan Andriopoulos gewählt: Sein Buch Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos macht Dr. Mabuse, der Spieler zum Zentrum eines Diskurs-Terrains und lenkt die Aufmerksamkeit auf einen historischen Hintergrund jenseits filmgeschichtlicher oder kulturtheoretischer Kontextualisierung. Andriopoulos ist ein Vertreter des "New Historicism", einer im angelsächsischen Raum derzeit prominenten Richtung der Filmtheorie - geschult an den Shakespeare-Studien von Stephen Greenblatt. Besessene Körper ist eines der ersten deutschsprachigen Werke, die dieser wissenschaftlichen Methode folgen, die eigentlich keine ist, sondern mehr eine bestimmte "Haltung" zu ihrem Gegenstand einnimmt: "New Historicism geht von der Geschichtlichkeit der Texte und der Textualität der Geschichte aus." (Anton Kaes) - damit ist die Verzahnung bereits angedeutet, die hier vorgenommen wird und bei der der Film als ein "historisches Ereignis" neben anderen firmiert. Andriopoulos' Interesse gilt bestimmten Begriffsformationen und ihrer Zirkulation in Literatur, Medizin und Rechtswissenschaft: Er stellt eingängig die vielfältigen Debatten um Hypnose und Körperschaften im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dar. Diese kreisen immer wieder um das (fiktive) Bedrohungsszenario möglicherweise unter Hypnose begangener Verbrechen oder um die Frage nach der Haftbarmachung von "juristischen Personen" und erfinden ihre eigenen Wiedergänger und Untoten. Dabei kommt schließlich auch Dr. Mabuse ins Spiel. Der Film benutzt diese Topoi nicht nur als Handlungsmomente, sondern lässt das Kino selbst als eine hypnotische Apparatur erscheinen. Obwohl die eigentliche Filmbetrachtung hier nur rund zwanzig Seiten ausmacht, gelingt es Andriopoulos, das Bezugsfeld für eine Beschäftigung mit Langs Film und mit dem Weimarer Kino entscheidend zu erweitern. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18. 3. 2001)