Da stand er nun, der Redner, in frisch gebügeltem Gewande, spürte die Enge in der Brust, spürte das Erstarren seiner Arme und spürte, wie ihm die Kälte in die Waden kroch. Er löste sich über die Schultern, den Hals und den Scheitel aus seiner physischen Erdgebundenheit und begann sich nach oben zu bewegen, ganz langsam, mit Hilfe von - ab und zu - so etwas wie einem Flossenschlag. Er schaute hinab auf die Frisuren und die Schuppen auf den Krägen und auf das Fragment seiner selbst, das er dort ans Pult gelehnt hatte. Schließlich blieb er ein wenig arrogant, im großen und ganzen jedoch freundlich, unter dem Luster hängen, ein hinwegdissoziierter Luftfisch. Manchmal fragte er sich bei derlei Gelegenheit, ob sein Leben in den allerletzten Augenblicken tatsächlich ablaufen würde wie ein innerer Film. Manchmal fragte er sich, ob sein Leben in den allerletzten Augenblicken tatsächlich ablaufen würde wie ein innerer Film. - So könnte ganz gut ein Roman beginnen. Der Versuchung, diesen Roman fortzuschreiben, werde ich (vorläufig) widerstehen und (vereinbarungsgemäß) weitersprechen. Ich werde, obwohl es mir mein Sohn eindringlich nahegelegt hat, nicht über den Qualitätsverlust in den vier Folgen von Star Wars sprechen, auch nicht, obwohl mein Herz ein Stück danach verlangte, über Yves Roberts Krieg der Knöpfe. Ich werde versuchen, über Dissoziation zu sprechen, über Kugelmenschen und über den Letzten Film. Als Luftfisch, das heißt, als einer, der unter entsprechend druckvollen Bedingungen sehr dazu neigt, realitätsausblendend in Nebenwelten abzuschweben, als hochgradig dissoziationsgefährdeter Mensch also, wähle ich die sicherste aller Varianten und beginne bei Platon. Ich beginne, genauer, bei der Eigenart Platons, entweder aus der Vermutung, selbst darin nicht glaubwürdig genug zu sein, oder aus purer Bescheidenheit, oder weil das damals unter großen Philosophen einfach so üblich war, Figuren in sein Werk einzuführen, die aus ihrer historischen Verbrieftheit unter Garantie witziger waren als er selbst. Unter anderem läßt er ausgiebig Sokrates auftreten, immer wieder, oder eben Aristophanes, ab und zu, den Komödiendichter, den, wenn man will, William Shakespeare oder Charlie Chaplin der Antike. Aristophanes erzählt während des Gastmahles im Hause des Agathon, nachdem man sich darauf geeinigt hat, das Besäufnis für diesen Tag sein zu lassen, nachdem ihm ferner der Arzt Eryximachos dabei geholfen hat, sein Schluckauf loszuwerden, die berühmte Fabel von der ursprünglichen Verfassung des Menschen: Neben Männern und Frauen habe es dereinst ein drittes Geschlecht gegeben, dessen Name verschwunden sei. Dieses dritte Geschlecht sei jedenfalls Ausgeburt des Mondes gewesen und habe sich, in Anlehnung an ihn, in Gestalt kugelförmiger Wesen manifestiert. Jedes Wesen habe vier Arme gehabt, vier Beine, vier Ohren und zwei identische Angesichter, die einander an einem gemeinschaftlichen Kopf gegenüberlagen. Die Wesen hätten sich nicht aufrecht gehend fortbewegt sondern radschlagend, ganz hurtig und unter Verwendung aller acht Gliedmaßen. An Kraft und Stärke waren sie gewaltig, erzählt Aristophanes von den Wesen des dritten Geschlechtes, und sie hegten auch große Gedanken. Diese Kombination aus Kraft und Stärke auf der einen, großen Gedanken auf der anderen Seite scheint dem bekanntlich zur Paranoia neigenden Zeus Sorgen bereitet zu haben. Wieder einmal sah er sich entthront und beschloß daher - nicht die Vernichtung der lunaren Kugelspezies (auf diese Art hätte er nämlich auch ihre Opfer und Ehrbezeugungen eingebüßt) - beschloß vielmehr, einen dezidiert dissoziativen Akt zu setzen. Er schnitt die Globen kurzerhand mitten entzwei. Apoll wurde beauftragt, die Haut zusammenzuziehen, Falten zu glätten und den Nabel zu formen, kurz, die Sache plastisch-chirurgisch halbwegs ansehnlich zu finalisieren. Was folgte, ahnt man: Die Hälften sehnten sich aus ihrer Vereinzelung zurück in die ursprüngliche Verfassung und hatten nichts Besseres zu tun, als einander vehement zu suchen. Hatten sie einander gefunden, ließen sie, obwohl klar war, daß ein Wiederverwachsen nicht in Frage kam, nicht mehr voneinander ab. Zeus, der ja nicht nur zur Paranoia neigte, sondern auch zu einer gewissen Dauergeilheit, der also auf genitaler Ebene durchaus empathisch und identifikationswillig war, Zeus nahm die Schamteile der beiden Dissoziationsopfer - da ließ er übrigens Apoll nicht ran! - und verpflanzte sie so, daß Kopulationsfähigkeit hergestellt wurde. Damit war Gottvater zufrieden und die Rezeptionskarriere der Geschichte vorgezeichnet. Alle stürzten sich aufs Ficken, um es deutlich zu sagen, zuletzt ausgiebig auch Gottvater Sigmund Freud - aber die Geschichte mit der Identifikation auf Gottvater-Ebene ist für Sterbliche wahrscheinlich nicht wirklich zu durchschauen. Im freudigen Überschwang angesichts der erfolgreich transplantierten Begattungsvorrichtungen wurde Brisantes übersehen: Der Schnitt war nicht primär einer zwischen Männlich und Weiblich sondern einer zwischen, einerseits, Kraft und Stärke, also der Macht, und, andererseits dem, was Platon Aristophanes "große Gedanken" nennen läßt. Was hier "große Gedanken" heißt, war seit jeher das Wissen, daß der Mensch in eine Herkunft hineingeboren wird, daß er ein dauerkompensierendes Mängelwesen ist, das manchmal weiß, was wahr und was falsch, manchmal auch, was recht und was unrecht ist, ein Mängelwesen, das - größter Mangel - letzten Endes unweigerlich stirbt. Der Schnitt des Zeus war somit einer zwischen jenen, die Macht haben, und jenen, die "große Gedanken" zu haben imstande sind. Letztere waren seit jeher die Vertreter von Religion, Philosophie und Kunst. Die Religion beschäftigt sich, seitdem sie die Abschaffung Gottes zugelassen hat, vornehmlich mit den präpubertären Sandkastenschlachten ihrer Bischöfe und den Charts vor der immer noch nicht kommenden Papstwahl. (Graz scheint im letzten Jahrzehnt eine kleine Ausnahme gewesen zu sein.) Die Philosophie hockt, überhaupt seitdem sie auf das anscheinende Scheitern des Marxismus-Experimentes keine Antwort gewußt hat, mehr oder weniger mutistisch auf der Hintertreppe und rührt sich nicht weg von dort; ab und zu reicht es zu einem selbstgefälligen Auftritt im Feuilleton. Bleibt also die Kunst, die immer noch zu taugen scheint als hinwegdissoziierte eine Hälfte der Macht. Den Machthabern hat die Sache klarerweise nie so recht gefallen, - weniger daß sie sich selbst mit größeren Gedanken schwer tun, sondern vielmehr, daß da andere sind, die ihnen semilunar vor Augen führen, ... daß der Mensch (auch der Macht habende) in eine Herkunft hineingeboren wird, daß er ein dauerkompensierendes Mängelwesen ist, das nur manchmal weiß, was wahr und was falsch, was recht und was unrecht ist, ein Mängelwesen, das - größter Mangel - letzten Endes stirbt. Gleichwohl wurde von jenen Mächtigen, die sich selbst durch permanentes Training ihrer Kritikfähigkeit vor der Dementia imperatoria, vor der Herrschaftsverblödung, bewahren konnten, darauf geachtet, daß sie zu jenen, die diese unangenehmen Wahrworte sprachen, in Sichtweite blieben, unter gleichzeitig penibler Einhaltung der gebotenen Distanz, versteht sich. Von Wiederverschmelzung kann sowieso keine Rede sein, auch wenn zugegebenermaßen manche Kunst/ Macht-Kombination gedankenexperimentell eines gewissen Charmes nicht entbehrt: Morak/ Menasse, um die Alliteration als unverdächtiges Auswahlkriterium heranzuziehen, wild radschlagend unterwegs in Richtung Arlberg; Schlingensief/ Schüssel, ein unverhoffter Wonnemond mit vier Ohren; und auch für Haslinger oder Haneke böten sich unter Garantie anlautmäßig entsprechende Halbfiguren an; sie fallen mir nur momentan nicht ein. Angesichts der erfolgten Genitalverpflanzung bestünde für die Rücken an Rücken Wiedervereinigten die Möglichkeit koitaler Anbandelung jedenfalls nicht. Das ist irgendwie beruhigend. Lokalassoziativ weiche ich aus und ab zu meinem einzigen Exkurs; - lokalassoziativ - in die Oper also: Puccini zum ersten. Tosca: Der Maler Mario Cavaradossi teilt mit dem aus dem Kerker entflohenen Führer der aufständischen Republikaner, Cesare Angelotti, seine Mahlzeit und gewährt ihm schließlich Unterschlupf in seinem Haus. Die Kunst war immer schon eine Sympathisantin der Revolution. Puccini zum zweiten. La Boheme: Der Dichter Rodolfo verfeuert aktweise das Manuskript seines jüngsten Theaterstückes, um die Kälte in seiner Dachstube zu lindern; sein philosophierender Freund Collin trägt seinen Mantel ins Leihhaus, um von dem Erlös Medizin für die lungenkranke Mimi zu kaufen. Die Kunst hat immer schon gefroren, gehungert, an Schwindsucht gelitten und sich den Arzt nicht leisten können. Puccini zum dritten. Tosca wiederum: Cavaradossi wird verhaftet, von Scarpia, dem Polizeichef Roms, gefoltert, schließlich, nachdem man ihm vorher gesagt hat, es befänden sich nur Platzpatronen in den Gewehren der Soldaten, durch ein Exekutionskommando hingerichtet. Die Kunst hatte immer schon einen unkorrigierbaren Hang zu selbstschädigender Treue, immer schon ein schlechtes Verhältnis zur Polizei, und schließlich wurde die Kunst immer schon zu Tode betrogen. Warum soll man von Altbewährtem abgehen? Gerne hätte ich noch länger über die Oper gesprochen, gerne auch noch länger über Dissoziation; zum Beispiel über die Rolle physischer Dissoziate und ihrer Analoga in der Geschichte von Herrschaftsstrukturen. Wie erklärt es sich etwa, daß in unserer angeblich demokratischen Gesellschaft jene Menschen, die Macht haben, sich in zunehmender Ausschließlichkeit mit dem Formen, Zählen, Hin- und Herschupfen und vor allem Zurückhalten von Stuhlknollen, also mit Geld, beschäftigen? Wie erklärt es sich, daß im Zuge einer noch weiteren Regression auf frühe Entwicklungsstufen selbst das Fäkaldissoziat seine Bedeutung zu verlieren scheint zugunsten eines Zustandes von primärem Narzißmus, der in Wahrheit eine autonom existierende Außenwelt gar nicht zuläßt und sie dort, wo er sie zu erkennen meint, augenblicklich vernichten muß? Die Menschen sterben. Oder, um es mit Odo Marquard zu sagen: Wie die Natalität beträgt auch die Mortalität der menschlichen Gesamtpopulation nach wie vor hundert Prozent. Oder, um es mit Lord Keynes, zitiert bei Odo Marquard, zu sagen: In the long run we all are dead. Die Menschen sterben, das ist das Skandalon schlechthin und auch buchstäblich: das wegschnellende Spreizholz in der Kastenfalle des Todes, und der Skandal wird nicht geringer dadurch, daß die Menschen, unmittelbar bevor sie sterben, offenbar genötigt sind, sich einen Film anzuschauen. Wer will das schon in so einem Moment? Die Substanz der Angelegenheit ist unklar, und man ist auf die anekdotischen Berichte von Leuten angewiesen, die diese ultimative Filmvorführung vor dem Abspann verlassen haben: Alles beginnt anscheinend damit, daß der arme Sterbling sich über Schultern, Hals und Scheitel aus seiner physischen Erdgebundenheit löst und sich langsam nach oben zu bewegen beginnt, vielleicht mit Hilfe von - ab und zu - so etwas wie einem Flossenschlag. Er schaut hinab auf heulende Angehörige, auf reanimierende Notärzte und auf das dissoziierte Fragment seiner selbst, das er dort unten liegengelassen hat. Ein wenig arrogant hängt er da und ein wenig verblüfft, als ihm ein gut gepolsterter Kinosessel unter den Hintern geklappt wird. Der Letzte Film, den es nun anzuschauen gilt, ist natürlich ein psychoanalytisches Phänomen, doch das wiederum ist schwer tautologieverdächtig, denn, wie man weiß, ist ja das ganze Leben in Wahrheit ein psychoanalytisches Phänomen. Der Letzte Film wird dort zum Argument der katholischen Jenseitsängstigungslogik, wo er angeblich aus all jenen Szenen besteht, in denen man sich im Leben wie ein Schweinehund benommen hat. Der Letzte Film wird schließlich dort zum wehrlosen Opfer der Transzendentalromatik, wo er am Ende in weißes warmes Licht samt angeschlossenem Glücksgefühl übergeht. Zum Gegenstand der Neurowissenschaften ist der Letzte Film noch nicht geworden, und ich bin auch nicht sicher, ob ich mir das wünschen soll. In Wahrheit erhalte ich mir viel lieber die Vorstellung eines Filmteams, das da an einem halbwegs gemütlichen Platz in meinem Kopf sitzt, Zeit meines Lebens, und dreht und beleuchtet und schneidet und das eine archiviert, das andere verwirft. Manchmal hätte ich gerne die Möglichkeit, einen Blick in das Material zu werfen, das dort bestens gesichert liegt, doch der Code ist mir unbekannt. Dürfte ich mir etwas wünschen, so wäre es die eine Einstellung, auf der rechts hinten die blaßgelbe westseitige Außenwand des Bahnhofsgasthauses mit dem roten Schriftzug LICHTSPIELE zu sehen ist, links, mehr im Vordergrund, die Ortstafel jenes Ortes, in dem ich aufgewachsen bin: Blindenmarkt. Der allererste Film, den ich im Bahnhofsgasthauskino von Blindenmarkt und in meinem Leben überhaupt sah, war Erich von Dänikens Erinnerungen an die Zukunft. Die Aporie dieses Filmtitels scheint dem Thema halbwegs gerecht zu werden. Der Letzte Film hat übrigens allen anderen Filmen gegenüber zwei entscheidende Vorteile: Außer meistens das Leben kostet er nichts, - erstens; und zweitens (folgt unmittelbar aus erstens) wird derjenige, der ihn dreht und produziert danach garantiert für keinen weiteren Film eine Subvention haben wollen. Kurzfassung: Manchmal fragte er sich, ob sein Leben in den allerletzten Augenblicken tatsächlich ablaufen würde wie ein innerer Film. - So könnte ganz gut ein Roman beginnen. Der Versuchung, diesen Roman fortzuschreiben, werde ich (vorläufig) widerstehen und (vereinbarungsgemäß) weitersprechen. Ich werde, obwohl es mir mein Sohn eindringlich nahegelegt hat, nicht über den Qualitätsverlust in den vier Folgen von Star Wars sprechen, auch nicht, obwohl mein Herz ein Stück danach verlangte, über Yves Roberts Krieg der Knöpfe. Ich werde versuchen, über Dissoziation zu sprechen, über Kugelmenschen und über den Letzten Film. Als Luftfisch, das heißt, als einer, der unter entsprechend druckvollen Bedingungen sehr dazu neigt, realitätsausblendend in Nebenwelten abzuschweben, als hochgradig dissoziationsgefährdeter Mensch also, wähle ich die sicherste aller Varianten und beginne bei Platon. Ich beginne, genauer, bei der Eigenart Platons, entweder aus der Vermutung, selbst darin nicht glaubwürdig genug zu sein, oder aus purer Bescheidenheit, oder weil das damals unter großen Philosophen einfach so üblich war, Figuren in sein Werk einzuführen, die aus ihrer historischen Verbrieftheit unter Garantie witziger waren als er selbst. Unter anderem läßt er ausgiebig Sokrates auftreten, immer wieder, oder eben Aristophanes, ab und zu, den Komödiendichter, den, wenn man will, William Shakespeare oder Charlie Chaplin der Antike. Aristophanes erzählt während des Gastmahles im Hause des Agathon, nachdem man sich darauf geeinigt hat, das Besäufnis für diesen Tag sein zu lassen, nachdem ihm ferner der Arzt Eryximachos dabei geholfen hat, sein Schluckauf loszuwerden, die berühmte Fabel von der ursprünglichen Verfassung des Menschen: Neben Männern und Frauen habe es dereinst ein drittes Geschlecht gegeben, dessen Name verschwunden sei. Dieses dritte Geschlecht sei jedenfalls Ausgeburt des Mondes gewesen und habe sich, in Anlehnung an ihn, in Gestalt kugelförmiger Wesen manifestiert. Jedes Wesen habe vier Arme gehabt, vier Beine, vier Ohren und zwei identische Angesichter, die einander an einem gemeinschaftlichen Kopf gegenüberlagen. Die Wesen hätten sich nicht aufrecht gehend fortbewegt sondern radschlagend, ganz hurtig und unter Verwendung aller acht Gliedmaßen. An Kraft und Stärke waren sie gewaltig, erzählt Aristophanes von den Wesen des dritten Geschlechtes, und sie hegten auch große Gedanken. Diese Kombination aus Kraft und Stärke auf der einen, großen Gedanken auf der anderen Seite scheint dem bekanntlich zur Paranoia neigenden Zeus Sorgen bereitet zu haben. Wieder einmal sah er sich entthront und beschloß daher - nicht die Vernichtung der lunaren Kugelspezies (auf diese Art hätte er nämlich auch ihre Opfer und Ehrbezeugungen eingebüßt) - beschloß vielmehr, einen dezidiert dissoziativen Akt zu setzen. Er schnitt die Globen kurzerhand mitten entzwei. Apoll wurde beauftragt, die Haut zusammenzuziehen, Falten zu glätten und den Nabel zu formen, kurz, die Sache plastisch-chirurgisch halbwegs ansehnlich zu finalisieren. Was folgte, ahnt man: Die Hälften sehnten sich aus ihrer Vereinzelung zurück in die ursprüngliche Verfassung und hatten nichts Besseres zu tun, als einander vehement zu suchen. Hatten sie einander gefunden, ließen sie, obwohl klar war, daß ein Wiederverwachsen nicht in Frage kam, nicht mehr voneinander ab. Zeus, der ja nicht nur zur Paranoia neigte, sondern auch zu einer gewissen Dauergeilheit, der also auf genitaler Ebene durchaus empathisch und identifikationswillig war, Zeus nahm die Schamteile der beiden Dissoziationsopfer - da ließ er übrigens Apoll nicht ran! - und verpflanzte sie so, daß Kopulationsfähigkeit hergestellt wurde. Damit war Gottvater zufrieden und die Rezeptionskarriere der Geschichte vorgezeichnet. Alle stürzten sich aufs Ficken, um es deutlich zu sagen, zuletzt ausgiebig auch Gottvater Sigmund Freud - aber die Geschichte mit der Identifikation auf Gottvater-Ebene ist für Sterbliche wahrscheinlich nicht wirklich zu durchschauen. Im freudigen Überschwang angesichts der erfolgreich transplantierten Begattungsvorrichtungen wurde Brisantes übersehen: Der Schnitt war nicht primär einer zwischen Männlich und Weiblich sondern einer zwischen, einerseits, Kraft und Stärke, also der Macht, und, andererseits dem, was Platon Aristophanes "große Gedanken" nennen läßt. Was hier "große Gedanken" heißt, war seit jeher das Wissen, daß der Mensch in eine Herkunft hineingeboren wird, daß er ein dauerkompensierendes Mängelwesen ist, das manchmal weiß, was wahr und was falsch, manchmal auch, was recht und was unrecht ist, ein Mängelwesen, das - größter Mangel - letzten Endes unweigerlich stirbt. Der Schnitt des Zeus war somit einer zwischen jenen, die Macht haben, und jenen, die "große Gedanken" zu haben imstande sind. Letztere waren seit jeher die Vertreter von Religion, Philosophie und Kunst. Die Religion beschäftigt sich, seitdem sie die Abschaffung Gottes zugelassen hat, vornehmlich mit den präpubertären Sandkastenschlachten ihrer Bischöfe und den Charts vor der immer noch nicht kommenden Papstwahl. (Graz scheint im letzten Jahrzehnt eine kleine Ausnahme gewesen zu sein.) Die Philosophie hockt, überhaupt seitdem sie auf das anscheinende Scheitern des Marxismus-Experimentes keine Antwort gewußt hat, mehr oder weniger mutistisch auf der Hintertreppe und rührt sich nicht weg von dort; ab und zu reicht es zu einem selbstgefälligen Auftritt im Feuilleton. Bleibt also die Kunst, die immer noch zu taugen scheint als hinwegdissoziierte eine Hälfte der Macht. Den Machthabern hat die Sache klarerweise nie so recht gefallen, - weniger daß sie sich selbst mit größeren Gedanken schwer tun, sondern vielmehr, daß da andere sind, die ihnen semilunar vor Augen führen, ... daß der Mensch (auch der Macht habende) in eine Herkunft hineingeboren wird, daß er ein dauerkompensierendes Mängelwesen ist, das nur manchmal weiß, was wahr und was falsch, was recht und was unrecht ist, ein Mängelwesen, das - größter Mangel - letzten Endes stirbt. Gleichwohl wurde von jenen Mächtigen, die sich selbst durch permanentes Training ihrer Kritikfähigkeit vor der Dementia imperatoria, vor der Herrschaftsverblödung, bewahren konnten, darauf geachtet, daß sie zu jenen, die diese unangenehmen Wahrworte sprachen, in Sichtweite blieben, unter gleichzeitig penibler Einhaltung der gebotenen Distanz, versteht sich. Von Wiederverschmelzung kann sowieso keine Rede sein, auch wenn zugegebenermaßen manche Kunst/ Macht-Kombination gedankenexperimentell eines gewissen Charmes nicht entbehrt: Morak/ Menasse, um die Alliteration als unverdächtiges Auswahlkriterium heranzuziehen, wild radschlagend unterwegs in Richtung Arlberg; Schlingensief/ Schüssel, ein unverhoffter Wonnemond mit vier Ohren; und auch für Haslinger oder Haneke böten sich unter Garantie anlautmäßig entsprechende Halbfiguren an; sie fallen mir nur momentan nicht ein. Angesichts der erfolgten Genitalverpflanzung bestünde für die Rücken an Rücken Wiedervereinigten die Möglichkeit koitaler Anbandelung jedenfalls nicht. Das ist irgendwie beruhigend. Die Menschen sterben. Oder, um es mit Odo Marquard zu sagen: Wie die Natalität beträgt auch die Mortalität der menschlichen Gesamtpopulation nach wie vor hundert Prozent. Oder, um es mit Lord Keynes, zitiert bei Odo Marquard, zu sagen: In the long run we all are dead. Die Menschen sterben, das ist das Skandalon schlechthin und auch buchstäblich: das wegschnellende Spreizholz in der Kastenfalle des Todes, und der Skandal wird nicht geringer dadurch, daß die Menschen, unmittelbar bevor sie sterben, offenbar genötigt sind, sich einen Film anzuschauen. Wer will das schon in so einem Moment? Die Substanz der Angelegenheit ist unklar, und man ist auf die anekdotischen Berichte von Leuten angewiesen, die diese ultimative Filmvorführung vor dem Abspann verlassen haben: Alles beginnt anscheinend damit, daß der arme Sterbling sich über Schultern, Hals und Scheitel aus seiner physischen Erdgebundenheit löst und sich langsam nach oben zu bewegen beginnt, vielleicht mit Hilfe von - ab und zu - so etwas wie einem Flossenschlag. Er schaut hinab auf heulende Angehörige, auf reanimierende Notärzte und auf das dissoziierte Fragment seiner selbst, das er dort unten liegengelassen hat. Ein wenig arrogant hängt er da und ein wenig verblüfft, als ihm ein gut gepolsterter Kinosessel unter den Hintern geklappt wird. Der Letzte Film, den es nun anzuschauen gilt, ist natürlich ein psychoanalytisches Phänomen, doch das wiederum ist schwer tautologieverdächtig, denn, wie man weiß, ist ja das ganze Leben in Wahrheit ein psychoanalytisches Phänomen. Der Letzte Film wird dort zum Argument der katholischen Jenseitsängstigungslogik, wo er angeblich aus all jenen Szenen besteht, in denen man sich im Leben wie ein Schweinehund benommen hat. Der Letzte Film wird schließlich dort zum wehrlosen Opfer der Transzendentalromatik, wo er am Ende in weißes warmes Licht samt angeschlossenem Glücksgefühl übergeht. Zum Gegenstand der Neurowissenschaften ist der Letzte Film noch nicht geworden, und ich bin auch nicht sicher, ob ich mir das wünschen soll. In Wahrheit erhalte ich mir viel lieber die Vorstellung eines Filmteams, das da an einem halbwegs gemütlichen Platz in meinem Kopf sitzt, Zeit meines Lebens, und dreht und beleuchtet und schneidet und das eine archiviert, das andere verwirft. Manchmal hätte ich gerne die Möglichkeit, einen Blick in das Material zu werfen, das dort bestens gesichert liegt, doch der Code ist mir unbekannt. Dürfte ich mir etwas wünschen, so wäre es die eine Einstellung, auf der rechts hinten die blaßgelbe westseitige Außenwand des Bahnhofsgasthauses mit dem roten Schriftzug LICHTSPIELE zu sehen ist, links, mehr im Vordergrund, die Ortstafel jenes Ortes, in dem ich aufgewachsen bin: Blindenmarkt. Der allererste Film, den ich im Bahnhofsgasthauskino von Blindenmarkt und in meinem Leben überhaupt sah, war Erich von Dänikens Erinnerungen an die Zukunft. Die Aporie dieses Filmtitels scheint dem Thema halbwegs gerecht zu werden. Der Letzte Film hat übrigens allen anderen Filmen gegenüber zwei entscheidende Vorteile: Außer meistens das Leben kostet er nichts, - erstens; und zweitens (folgt unmittelbar aus erstens) wird derjenige, der ihn dreht und produziert danach garantiert für keinen weiteren Film eine Subvention haben wollen.