Wien - Noten? Papier? Bald schon könnte das traditionelle Erscheinungsbild komponierter Musik verblassen wie alte Schrift auf einem Palimpsest. Grund des jähen Bleichungsprozesses: die Entwicklung der Computertechnologie, die immer stärker Einsatz findet in der neuen Musik. Wohin diese elektronische Revolution führen könnte, demonstrierte der Salzburger Komponist Gerhard E. Winkler beim Festival Hörgänge : Ein Monitor flimmert auf der Bühne des Wiener Konzerthauses, das alte Notenblatt hat ausgedient. Stattdessen hecheln die Musiker gestresst den Spielanweisungen hin-terher, die ihnen der Computer hinterlistigerweise durch Analyse ihres eigenen Spiels errechnet und immer neu - zum Teil wenigstens noch in herkömmlicher Notenschrift - auf den Bildschirm sendet. Stücke wie entrop für Stimme (Christina Ascher) und Englischhorn (Jacqueline Möckel) oder die Reihe der solistischen Hybride , die gleichfalls erlesene Musiker wie die Flötistin Carin Levine, der Bratschist Garth Knox und der Kontrabassist Uli Fussenegger spielten, zerstreuten rasch das Bedenken, diese neue Form von interaktiver Computermusik sei bloß elektronische Spielerei. Denn Winkler geht es nach wie vor um Klang. Allerdings nicht mehr um den fixierbaren, restlos ausdeutbaren, sondern um den flüchtigen, überraschend wandelbaren. Konkrete Geräusche - aus einem Steinbruch oder vom Meeresstrand - sind die Ausgangsbasis elektronischer Zuspielungen, die durch den imaginären Dialog zwischen den Solisten und dem Computer mit den elektronisch transformierten Klängen der Instrumente zunehmend überschrieben werden - was der Computer minutiös aufzeichnet. Werden die Stücke mehrmals gespielt, so ertönt das Zuspielmaterial folglich immer dichter und verfremdeter: Aus dem realen Knirschen der Steine wird ein elektronischer Felssturz. Ein faszinierendes interaktives Environment. Obwohl vordergründig konventioneller, weil ohne Elektronik zu spielen, sind auch drei Solostücke Bernhard Langs nicht minder radikal. Mag der Computer in Zukunft vielleicht persönliche Schriftzeichen ausradieren, so erinnert Lang musikalisch an die elegant-gleitenden Bewegungen der Handschrift. Mit den flüchtigen "écritures automatiques" der Surrealisten lassen sich Schrift 1.2, 2 und 3 assoziieren: In traumhaft-verlorenen, unruhigen Linien huschen diese rhythmisch unerhört komplexen Stücke für Flöte (Sylvie Lacroix), Violoncello (Michael Moser) und Akkordeon (Krassimir Sterev) vorbei. Ein großes Kompliment den konzentrierten Interpreten, die nach der Pause im Trio auch Langs Differenz/Wiederholung 3 ganz fabelhaft spielten. Ein von nahezu zwanghaften Repetitionen durchsetztes Werk, dessen minutiös auskomponierte Veränderungen deutlich machten, dass Papier noch nicht ganz überflüssig geworden ist. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21. 3. 2001)