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Stockholm/Wien - Ab sofort und jedes Jahr werde es nun einen "EU-Frühjahrsgipfel" geben, bei dem es praktisch nur um eine Frage gehen solle: Wie kann Europa im nächsten Jahrzehnt von der stärksten auch zur effizientesten Wirtschaftsmacht und innovativsten Gemeinschaft der Welt werden, die dabei ihr eigenes, soziales Gesellschaftsmodell verwirklicht? Kurz: Was muss im (noch unvollendeten) Binnenmarkt geschehen, um die USA zu überholen? So lautete der zentrale Beschluss der Staats- und Regierungschefs der Union, als sie im März 2000 in Lissabon ihr "neues strategisches Ziel" für "e-Europa" formulierten: Die Folgen der Euro-Einführung, die gemeinsame Beschäftigungspolitik, die noch in den Kinderschuhen steckt, Wettbewerbsverzerrungen durch nationale Steuer- und Sozialpolitik, Informationstechnologie, Alterungsproblem und Kinderarmut - all das sollte unter dem Gesichtspunkt der Stärkung der Union durch ständige Anpassung, "beste Praxis", ständig überprüft und weiterentwickelt werden. "Viele Papiere auf dem Tisch" Das wird Europas politische Führung ab heute in Stockholm in eineinhalb Tagen bis Samstagmittag auch versuchen. Dennoch werden Wirtschaftsthemen dem ersten Frühjahrsgipfel kaum ihren Stempel aufdrücken. Das liegt zum Teil an der Komplexität der Materie, "weil so viele Papiere auf dem Tisch liegen", wie Finanzminister Karl-Heinz Grasser sagte. Dazu hat die schwedische Ratspräsidentschaft aber mit der Einladung des russischen Präsidenten Wladimir Putin (wohl ungewollt) dafür gesorgt, dass die Außenpolitik ganz im Vordergrund steht. Neben ihm wird auch noch der mazedonische Präsident Boris Trajkowski erwartet, dem von den europäischen Partnern demonstrativ der Rücken gestärkt werden soll. "Man will (in der Krise) nicht allein sein, man will Europa in seiner Nähe spüren", brachte Kommissionspräsident Romano Prodi die Lage auf den Punkt: "Die Union wird als Garantie für die Unversehrtheit eines Staates betrachtet." Erster Auftritt So stark dieses Symbol sein mag: Eine noch stärkere allgemeinpolitische Bedeutung kommt dem Auftritt Putins zu. Er wird nur fünf Stunden nach dem kontrollierten Absturz der Raumstation Mir im Pazifik in Stockholm landen, um im Kreise seiner Kollegen die Zukunft des Kontinents zu besprechen. Es ist dies der erste Auftritt eines russischen Präsidenten bei einem EU-Gipfel. "Auch wenn es keine konkreten Beschlüsse gibt, ist das eine ganz wichtige Premiere", erklärte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel vor seiner Abreise aus Wien am Mittwoch. Mit Putin gebe es eine Qualität des Dialogs, wie es seit zehn Jahren nicht erinnerlich ist. Die europäischen Partner wollen mit Putin über einen Milliardenkredit ebenso reden wie über Energielieferungen, eine Erhöhung der Kreditlinien durch die Europäische Investitionsbank sowie über Tschetschenien und die Lage in Mazedonien. Schwedens Premierminister Göran Persson will mit dem Russen aber auch das heikle Thema Kaliningrad ansprechen: Dieses russische Territorium wird zu einer Insel mitten in der EU, wenn Polen und Litauen der Union beitreten. Russland will im Beitrittsprozess eine Rolle für sich reklamieren, was die Union strikt ablehnt. Aber es wäre nicht überraschend, wenn in Stockholm Grundsätze für den Umgang mit Kaliningrad nach der EU-Erweiterung umrissen werden. EU-Erweiterung - Obwohl die schwedische Ratspräsidentschaft und die EU-Kommission bestrebt waren, die Erweiterungsverhandlungen möglichst nicht zum Thema des Stockholmer Gipfels machen zu lassen, wird der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder einen diesbezüglichen Vorstoß unternehmen. Man halte die (informellen) Überlegungen von Erweiterungskommissar Günter Verheugen zu den Übergangsregelungen bei der Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den künftigen neuen EU-Ländern nicht für ausreichend, hieß es in Berliner Regierungskreisen. Schröder werde daher, wie schon in Nizza, nachdrücklich die deutsche Forderung nach einem Übergang von sieben Jahren in Erinnerung rufen. Erst nach dieser Zeit könnten die Arbeitsmärkte geöffnet werden. Nach dem deutschen System solle es aber jedem Staat freistehen, darüber selbst zu entscheiden, wobei generell ein Beobachtungsmechanismus vorgesehen werden sollte. Berlin verweist auf die Erfahrungen beim Beitritt Spaniens und Portugals 1986. Diese Wünsche liegen ganz auf der Linie der österreichischen Bundesregierung. Kanzler Wolfgang Schüssel sagte in Wien, diese "mit Schröder beschlossene gemeinsame Position hält auch". Österreich und Deutschland trügen 80 Prozent der Lasten bei der Zuwanderung. Dies müsse berücksichtigt werden. Binnenmarktproblem Dazu gibt es zwar nach wie vor keine offizielle Position der Kommission. Verheugen soll aber eine Übergangsfrist für Arbeitnehmer von fünf Jahren anstreben, die einzelne Länder um zwei Jahre verlängern könnten. Unter den EU-Ländern gibt es eine klare Mehrheit, die Deutschland und Österreichs Probleme anerkennen und eine flexible Sonderlösung akzeptieren würden. Allerdings stellt sich das Problem, dass allzu viele Schutzklauseln oder Quoten einen enormen Kontrollaufwand bedeuten würden, vor allem aber die Binnenmarktprinzipien untergraben würden. Die meisten Länder wollen daher nur kurze Übergangsfristen, auch, um anderen Begehrlichkeiten der Kandidatenländer keinen Vorschub zu leisten. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 23. 3. 2001)