Paris - Um in der Flut von Picasso-Ausstellungen, die in den letzten Jahren über uns hinschwappte, einen spezifischen, weitestgehend ungesehenen Aspekt herauszufischen, muss man entweder viel Mut oder gute Ideen oder (bis jetzt) gut verschlossene Museumsschubladen haben.

Jean Clair (d. h. Gérard Regnier, der Direktor des Pariser Picasso-Museums), ein internationaler Kurator ersten Ranges, erfüllt alle drei Bedingungen, und dazu hat er auch noch ausgezeichnete Beziehungen zu Privatsammlern und internationalen Spitzengalerien. Alle diese Faktoren zusammengebündelt führen zur derzeitigen Pariser Ausstellung Picasso érotique, die bis zum 20. Mai am Place de la Concorde in der Galerie nationale du Jeu de Paume zu sehen ist.

Kreativer Trieb

Selbstverständlich durchzieht die Erotik das gesamte Schaffen des geni(t)alen Herrn Picasso (1881-1973). In der Pariser Schau mit ihren 330 Exponaten gewinnt man den Eindruck, dass Picassos kreativer Impetus überhaupt aus dem Sexualtrieb entstanden sei. Von den ersten Skizzen des achtjährigen Buben bis zu der zittrigen Feder- und Filzstiftzeichnung des Neunzigjährigen vom 5. 10. 1972 (Akt) spannt sich ein breiter Eros-Bogen.

Des Amors Pfeil - oder Picassos Pinsel, in jedem Falle ein Phallus-Symbol - zielt permanent auf den weiblichen Körper. Selbst in den zahlreichen Umarmungen, wo der - normalerweise - männliche Partner mit dem entsprechenden Organ eingegliedert wurde, wird der Blick von weiblichen Rundungen und/ oder klaffenden Öffnungen angezogen. Dem Zwangs-Voyeur-Blick des Besuchers wurden vermutlich nie zuvor so viele weit geöffnete Vulven wie in dieser Ausstellung dargeboten.

Jean Clair geht so weit, eine Parallele zwischen dem Auge und der Vulva zu wagen: "Der Blick ist die Erektion des Auges", meint er in seinem Katalogbeitrag zum Erotischen Picasso, wo er das Auge als das Substitut des Geschlechts auffasst. Das beschädigte Auge der Celestina (altersbedingt von der Prostituierten zur Kupplerin geworden) aus der Blauen Periode Picassos, mit seiner irritierenden, milchigen Iris, hat die gleiche Form wie so manche beunruhigende Darstellung der weiblichen Genitalien.

Besonders die Zeichnungen vor der kubistischen Periode, die aus Privatsammlungen, den Reserven des Pariser und Barceloner Picasso-Museums hervorgezaubert wurden, sowie die späten, erektionsschwächeren (und daher fantasiebesessenen) Schaffensjahre zeigen Vulven in allen Varianten.

Junge Damen, die von einer Fischzunge oder von einem Minidackel beglückt werden, sieht man z. B. auf den Aquarellen der frühen Pariser Jahre: Le Maquereau, 1902, Pipo, 1901.

Doppelter Sinn

Mit seinem Theaterstück Die Lust am Schwanz gepackt (Le désir attrapé par la queue) lebte Picasso auch dramaturgisch seine pornographischen Wortspiele aus, die oft als Titel der Zeichnungen und Gemälde mit dem Doppelsinn des Französischen banal jonglierten.

Auch die Phallus-Darstellungen durchziehen leitmotivisch das Gesamtschaffen des größten pikturalen Genies des 20. Jahrhunderts. Le Phallus, eine Federzeichnung mit Buntstift von 1903 (Leihgabe Galerie Gmurzynska), zeigt die Form der männlichen Genitalien, in die der Zeichner das Gesicht von Gottvater integriert. In den Hoden kauert eine demütige Eva.

Mehrere Grafik-Serien der chronologisch gehängten Ausstellung zeigen den Maler oder den alternden Mann als Voyeur - ebenfalls ein Leitmotiv Picassos. Von den 347 Radierungen Raphael et la Fornarina aus dem Jahre 1968 werden die Schlüsselszenen im Jeu de Paume gezeigt, wo sich der Maler Raphael (mit geschwungenem Pinsel und Penis) mit der Kurtisane La Fornarina verlustigt, während der betagte Papst das Geschehen unmittelbar verfolgt. In einer anderen Serie folgt der Stecher Picasso seinem Malerkollegen Degas ins Bordell, wo er auch weibliche Homosexualität abbildet.

Die Pariser Schau, mutiger als ihre unmittelbare Berliner Vorgängerin Die Umarmung , demonstriert dennoch den insgesamt sehr konventionellen sexuellen Rahmen, in dem sich Picassos Bilderkaleidoskop abspielte. Bis 20. 5. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25. 3. 2001)