Exklusiv: "Mein Europa", die Rede, die der polnisch-amerikanische Schriftsteller Louis Begley zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am vergan-genen Mittwoch hielt. Aus selbst Erlebtem, bittersüß Erinnertem, in der Literatur Gefundenem webt Begley das Bild eines, seines Kontinents. Mein Europa beginnt mit Polen vor dem Weltkrieg, dem Zweiten Weltkrieg natürlich. Bald wird niemand mehr da sein, der Europa noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kennt, dem Krieg, der die alte Ordnung zerstört und dem Kontinent eine neue politische Landkarte gegeben hat, die, abgesehen von relativ geringen Veränderungen, bis heute in Geltung ist. Der einzige Mensch, mit dem ich noch über Europa vor dem Ersten Weltkrieg sprechen kann, ist meine Mutter, sie wurde im Dezember 90 Jahre alt, 1914, bei Kriegsausbruch, war sie noch nicht ganz vier Jahre, aber sie erinnert sich, wie ihre Familie im Spätherbst desselben Jahres aus Rzeszów, ihrem Geburtsort in Galizien, nach Brno (Brünn) in Mähren floh, getrieben von der Angst vor Pogromen, die mit dem Vormarsch der zaristischen russischen Truppen zu erwarten waren. Die Familie blieb bis zum Ende des Sommers 1917 in Brünn. Meine Mutter ging dort in den Kindergarten und lernte Deutsch wie eine zweite Muttersprache; ohne diesen Vorteil wäre sie knapp fünfundzwanzig Jahre später, als das Deutsche Reich daranging, die polnischen Juden auszurotten, vielleicht nicht imstande gewesen, sich und mir das Leben zu retten. Den Kern meiner frühesten Erinnerungen an Polen bildet ein Sommer auf dem Land, wo meine Großeltern ein kleines Gut hatten. Das niedrige Gutshaus war aus Holz und so verwittert, dass es für mich schwarz aussah. Um dort anzukommen, musste man vom Bahnhof aus endlos lang über blendend weiße staubige Straßen fahren. Die behäbigen Gäule, die den Kutschwagen meiner Großeltern zogen, zuckelten so widerwillig vor sich hin, dass ihr langsamer Hufschlag und das Schaukeln des uralten Fahrzeuges mich unweigerlich in den Schlaf wiegten. Das Haus war innen genauso dunkel und düster wie außen - ein Kokon aus Schweigen, in den tagsüber nur gedämpfte Geräusche vom Hof drangen, gegen Abend das Muhen der Kühe, die zum Melken in die Ställe gebracht wurden, und nachts das Bellen der Hunde, die der Kutscher meines Großvaters von der Kette ließ. Meine Großmutter achtete darauf, dass ich reichlich aß, nicht nur bei den fünf regelmäßigen Mahlzeiten (es gab ein zweites Frühstück und auch einen Imbiss am späteren Nachmittag vor dem Abendessen), sondern, als ob das nicht genug wäre, noch zusätzlich jederzeit zwischendurch, wenn ihr eine Süßigkeit einfiel oder ein besonderes Stückchen Fleisch, zum Beispiel eine Hühner- oder Entenleber, deren Verzehr mich kräftigen könnte. Sie redete nicht viel, auch mein Großvater sagte wenig, und die Haushilfen, Landfrauen aus der Umgebung, ließen mich in Ruhe. Der Sommer zog sich hin und ging über in einen goldenen Frühherbst. Mit der Großmutter oder der einen oder anderen dieser wortkargen rauen Mägde ging ich zum Rand des Waldes, der gleich hinter einer Weide beim Haus anfing, im tiefen Schatten sammelten wir Pilze. Dann waren die Ferien um. Es wurde Zeit für die Rückfahrt nach Stryj, die Stadt, wo meine Eltern wohnten. Meine Erinnerungen an Polen während des Zweiten Weltkrieges habe ich in meinem ersten Roman festgehalten, Lügen in Zeiten des Krieges. Lügen in Zeiten des Krieges ist eine erfundene Geschichte; sie beruht nur zum Teil auf Erinnerungen an das, was mir widerfahren ist, und zu einem mindestens gleich großen Teil auf Berichten von den Missgeschicken anderer, die ich im Krieg oder kurz danach hörte. Zwangsläufig erinnerte ich mich am deutlichsten an Innenräume, die gemieteten möblierten Zimmer, in denen meine Mutter und ich zweifelten und harrten, was wohl zuerst käme: die Niederlage der Deutschen, die dem Angsttraum ein Ende machen würde, oder das tödliche Pochen an der Tür, das die Gestapo und das Ende unseres Lebens ankündigte. Diese Zimmer verließen wir so selten wie möglich, aber selbstverständlich gab es auch gewisse Geschehnisse im Freien, an die ich mich sehr lebhaft erinnern konnte: den Einmarsch der Deutschen in unsere Stadt, die Judenaktionen und die anschließenden Szenen der Gewalt und des Mordes an Einzelnen, den Brand des Warschauer Gettos, den ich nur mittelbar erlebte, weil ich von außen zusah, und Brand und Zerstörung des restlichen Warschau während des Aufstandes, der im August 1944 begann. Als ich Lügen In Zeiten des Krieges schrieb, merkte ich, dass ich die Topographie aller mir einst in Polen bekannten Orte vergessen hatte; nur an Stryj, wo ich geboren bin und bis zum zehnten Lebensjahr aufwuchs, hatte ich noch Erinnerungen. Aber auch sie beschränkten sich auf wenige Grundzüge: Ich erinnerte mich an das Haus meiner Eltern und die Straße, an der es stand, den Marktplatz, den Weg zum Bahnhof und den Badestrand am Fluss. Ich musste mir den Straßenplan von Warschau gründlich und genau ansehen, sonst hätte ich weder Tanjas und Macieks Wege durch die Stadt während ihrer seltenen Ausflüge bezeichnen, noch die Pension, wo sie Schutz fanden, platzieren können; ich brauchte den Stadtplan, um die beiden in der Altstadt unterzubringen, damit sie sich, wie meine Mutter und ich, bis zu den letzten Tagen des Aufstandes in Warschau verstecken konnten, und um sie schließlich aus ihrem Keller zum großen Bahnhofsvorplatz führen zu können. So armselig war im Falle dieses Romans der Vorrat meiner einschlägigen Erinnerungen. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte Litauen, soweit die herrschenden Klassen Polens und Litauens betroffen waren, zu Polen. So war es gewesen, seit der litauische Großfürst Jagiello 1386 getauft wurde, die Polenkönigin Jadwiga heiratete und den polnischen Thron bestieg. Ein oder zwei jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs las ich zum Erstenmal Pan Tadeuzs, Adam Mickiewicz' großes Epos von 1834, und ich meinte, in dieser wunderbaren Elegie auf die versunkene Lebenswelt des litauischen Landadels, so wie sie der Dichter aus der Zeit des napoleonischen Russlandfeldzuges in Erinnerung hatte, ein fernes Echo zu spüren, gleichsam eine fast vergessene Melodie, die einem keine Ruhe lässt, aber so unbestimmt ist, dass man sich fragt, ob man sie je gehört oder nur geträumt hat. Ich spürte [] Deutsch von Christa Krüger, Übersetzerin auch seiner Bücher. Von Begley ist auf Deutsch u.a. erschienen: Schmidts Bewährung, öS 291,-/EURO 21,15/313 Seiten; Mistlers Abschied, öS 145,-/EURO 10,45/284 Seiten (TB); Lügen in Zeiten des Krieges, öS 181,-/EURO 13,15/222 Seiten; Der Mann, der zu spät kam, öS 291,-/EURO 21,15/284 Seiten. Erscheint im Juni: Das Gelobte Land. Alle bei Suhrkamp, Frankfurt/Main. darin den Sommer und den Herbst auf dem Gut meiner Großeltern. Das wird eine Meisterleistung meiner Selbststilisierung, Vorstellungskraft oder Empathie gewesen sein. Objektiv betrachtet, konnte weder der bescheidene Landsitz eines gut situierten polnischen Juden noch das Leben in diesem Haus auch nur die geringste Ähnlichkeit, die leiseste Verbindung mit dem prächtigen Besitztum von Mickiewicz' aristokratischem, vornehm altmodischen Richter Soplica aufweisen. Aber wie viel von Pan Tadeusz ist Fantasie und wie viel genaue Erinnerung? Der Dichter wurde 1789 geboren. Die Ereignisse, die er beschreibt, fanden in den Jahren 1811 und 1812 statt - also in einer Zeit, als er noch sehr jung war. Mickiewicz wurde 1824 von russischen Gerichten wegen revolutionärer Umtriebe in die Verbannung geschickt und sah Litauen oder Polen nie wieder. Man darf wohl skeptisch fragen, wie zuverlässig die Erinnerungsfragmente, das bric-à-brac in seinem Gedächtnis waren, aus denen er die wunderbar detaillierte, reich instrumentierte Schilderung dieser ganz besonderen Gesellschaft samt ihren Jagden, Bällen und Fehden zusammensetzte. In Wahrheit scheint es so zu sein, das für den Autor eines Romans Tatsachen, an die er sich wirklich erinnert, nur untergeordnete Bedeutung haben, da seine Arbeit das Erfinden von Geschichten ist, ein Werk der Fantasie, die ohnehin alle derartigen Tatsachen umwandeln, transponieren und neu mit Leben erfüllen muss. Wie sonst ließe sich die Metamorphose des im Departement Eure-et-Loir real existierenden Illiers zu Prousts Combray erklären? Meine dürftigen Erinnerungen an das Gut meiner Großeltern auf dem Land in Polen muss ich unbewusst transportiert haben, um ihren Widerhall im Landleben von Mickiewicz' Meisterwerk hören zu können; diesen aller Logik und vernünftigen Überzeugung unzugänglichen Umwandlungsprozess habe ich deshalb etwas ausführlich dargestellt, weil ich meine, dass er meine bleibende Verbundenheit mit meinem Geburtsland anschaulich macht. So konnte ich, als ich Witold Gombrowicz' Ferdydurke las, anhand der Beschreibung der Schule, in die der schreckliche Professor Pimko den erwachsenen Erzähler wie in einen Albtraum stößt, die madelaine finden, die meine eigenen verschütteten, aber für mich sehr realen Erinnerungen an die Brutalität der Schüler und Lehrer meines Krakauer gimnazjums wieder aufleben ließ; und die Szene, in der sich der Erzähler und sein Vetter Zygmunt genüsslich darüber verständigen, wie unterhaltsam es für Kavaliere ist, Dienern, Portiers, Barbieren - allen Menschen, die nicht zurückschlagen können - Ohrfeigen zu geben, weckte meine Erinnerung an den polnischen Ritus, anderen ins Gesicht zu schlagen. Es kommt mir nicht darauf an, ob dies ein typisch polnischer oder osteuropäischer oder ein universeller Ritus ist, obwohl ich reine Universalität bezweifle, da ich ihm zum Beispiel in Amerika nie begegnet bin. Ich will nur sagen, dass diese Form der Demütigung und Herabsetzung für mich unlöslich mit Polen verbunden ist - vermittelt durch verschüttete Erinnerungen, die wahr oder eingebildet sein mögen, Erinnerungen wie die an mein gymnazjum in Krakau, und, was mir viel wichtiger ist, vermittelt durch Gombrowicz. Wenn ein Schriftsteller in einem Roman Erinnerungen an selbst Erlebtes verwendet, werden sie, ganz gleich, wie stark sie beim Schreiben verändert wurden, an die Stelle jener Erinnerungen treten, die der Autor zu haben glaubte, bevor er den Roman schrieb; das ist allgemein bekannt. Nabokov rückt diesen Prozess in Erinnerung, sprich mit einem beredten Vergleich ins Licht: Es ist, als gäbe der Autor seine Besitztümer Stück für Stück an den Leser her. In meinem Fall hat das dazu geführt, dass meine Bindung an Polen jetzt fast ausschließlich literarisch ist: Sie besteht aus den Erinnerungen, die ich in Lügen in Zeiten des Krieges einfließen ließ, die nicht mehr meine eigenen sind, weil sie vollkommen umgeformt wurden, und aus dem starken Widerhall der Werke großer polnischer Autoren, dem ich ausgesetzt bin. Es sind nicht allein Mickiewicz und Gombrowicz. Zu den anderen, die mich stark mit Polen verbinden, möchte ich, in zufälliger Reihenfolge, Juliusz Tuwim, Stefan, Zeromski und Tadeusz Borowski zählen. Borowski ist in meinen Augen der einzige Schriftsteller außer Primo Levi, der jener unfassbaren Aufgabe gewachsen war, ein literarisches Werk über Auschwitz zu schreiben. Die Bücher aller dieser Autoren enthalten, je abhängig von der Hypothese, der ich mich anschließe, ein Polen, das ich wieder erkenne - mit dem spezifischen Schock, den man empfindet, wenn eine Erinnerung lebendig wird - oder haben das Polen geformt, das ich jetzt zu erinnern glaube. 1946 verließen meine Eltern und ich Polen. Wo wir uns auf Dauer niederlassen würden, war nicht klar - die Vorstellung, man könne irgendwo einen Daueraufenthalt oder ständigen Wohnsitz beanspruchen wollen, schien mir damals wie heute eine Hybris, die dazu herausfordert, prompt mit Vertreibung und Exil bestraft zu werden -, aber wir hatten ein Visum, das uns die Einreise nach Frankreich und einen zeitlich begrenzten Aufenthalt im Land gestattete. Wir fuhren nach Paris und warteten dort auf eine günstige Nachricht von irgendwoher. Unser Aufenthalt dauerte gut sechs Monate - für mich eine Zeit von außergewöhnlichem Laissez-aller. Ich brauchte gar nichts zu tun, wurde nicht einmal aufgefordert, Französisch zu lernen. Vielmehr streifte ich durch die Stadt, prägte mir den Stadtplan ein und begriff, wie die Metro organisiert war. Auch suchte ich oft und begeistert die Jahrmarktsbuden an der Place Pigalle auf. Vielleicht war diese erste Kostprobe von Freiheit der Grund für meine Liebe zu Frankreich. Viel Zeit verging - jedenfalls schien es mir damals so, obwohl es nur die Spanne zwischen Anfang 1947 und Sommer 1954 war -, bis ich zurückkehrte. Seitdem bin ich häufig dort. Einige Jahre lang, von 1965 an, lebte und arbeitete ich als Anwalt in Paris. Später festigte eine sehr enge Familienbeziehung die Verbundenheit durch Neigung nach und nach weiter. In meinem Europa kommt Frankreich gleich nach Polen, und wäre die Prägekraft unserer frühesten Erfahrungen, vor allem der ersten Sprache, die wir uns aneignen, weniger stark, dann würde Frankreich viel mehr Raum in jenem persönlichen Traumland einnehmen als das Land, in dem ich geboren bin. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass meine Verbundenheit mit der französischen Literatur mehr Bedeutung für mich hat als die Landschaft, Architektur, bildende Kunst oder Lebensart Frankreichs. Sobald ich 1947 von Paris getrennt war, holte ich in aller Eile nach, was ich in der Stadt versäumt hatte. Im Studienjahr 1954/55, meinem ersten Jahr am Harvard College, geriet ich in ein Seminar mit dem einschüchternden Titel "Proust, Joyce und Mann", das der große Harry Levin leitete. A la recherche du temps perdu las ich Tag und Nacht. Anders wäre es gar nicht gegangen: Ich las das französische Original und hatte nur drei Monate Zeit dafür. Seither ist Du côté de Proust, der Band, den der größte Romancier aller Zeiten nicht geschrieben hat, mein ständiger Begleiter, das Reden über die Personen, die diesen mythischen Raum bevölkern, ist für meine Frau und mich die schönste Form von Klatsch, die wir uns vorstellen können. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wie es möglich ist, dass sehr junge Männer wie ich damals, deren Leben unglaublich verschieden von dem des Ich-Erzählers oder Prousts anderer Geschöpfe ist, trotz aller Verschiedenheit Prousts Buch und seine Welt glaubwürdig finden und schließlich auch verstehen. Freilich liest man ein großes Werk wieder und wieder - so wie ich A la recherche wieder gelesen habe, und mit jedem Lesen wird man das Buch neu und anders verstehen. Da ich jedoch später im Leben ab und zu Gelegenheit hatte, einen kurzen Blick auf eine Gesellschaft zu werfen, die der von Proust geschilderten analog ist, bin ich dennoch zuversichtlich, dass mein Anfangsverständnis Prousts, die Weise, wie ich seine Welt zunächst sah, nicht unzutreffend war. Bald danach fing ich an, Balzacs Romane zu lesen, mit denen man ein Leben lang beschäftigt ist, und dann die Romane und Erzählungen Flauberts. Das hatte zur Folge, dass ich die französische Gesellschaft und ihre "mores" nur noch durch die Brille sehen kann, die Proust und diese beiden seiner Vorgänger mir verpasst haben. Ist es überhaupt möglich, zum Beispiel die wohlhabende französische Bourgeoisie ohne Rückbeziehung auf Les illusions perdues zu sehen, oder die politischen Passionen in Frankreich ohne die Lektionen der L'Education sentimentale zu verstehen? Ich glaube nicht. Ich sehe, dass ich mich auf ein gewagtes Spiel eingelassen habe, denn ich muss zugeben dass die schönsten Landschaften, die ich auf Fahrten durch die Provence sehe, von Cézanne gemalt sind, und dass die "pensionnaires" eines Bordells in St. Raphael, in das ich einmal geriet, als ich mir einen Pastis bestellen wollte, Werke von Degas waren. Ich will nicht noch mehr Beispiele aufzählen, denn sie, wie auch das Spiel, beweisen nur, dass große Schriftsteller und große Künstler die besten Reiseführer und zuverlässigsten Interpreten für die Welt sind, in der wir leben. Ich muss auch zugeben, dass ich ein Büchernarr bin, dass also meine Gewohnheit, vielen Szenen aus meiner Umwelt Gültigkeit zu verschaffen, indem ich sie zu den Romanen in Beziehung bringe, die ich am meisten bewundere, oder sie sogar in diese Romane einfüge, ein intellektueller Tic ist, Charles Swann ließ sich übrigens von einem ähnlichen Tic leiten, als er sich damit abfand, dass er Odette liebte, obwohl sie nicht sein Genre war, diese Frau jedoch erst akzeptierte, nachdem er die Ähnlichkeit zwischen ihr und Zipporah, der Tochter Jethros auf dem Botticelli-Fresco festgestellt hatte, das man in der Sixtinischen Kapelle sehen kann. Aber das, was mein Frankreich und mein Europa im Kern bestimmt, existiert nicht nur in Büchern, die ich gelesen habe oder in Gemälden, die ich bewundere. Eine Spielart meines Frankreich könnte man in meinem zweiten Roman, Der Mann, der zu spät kam, sehen. Wenn Sie das Buch lesen, werden Sie diese Spielart in einem Exvoto für einen Autor finden, den ich noch nicht erwähnt habe: Pierre Jean Jouve. Sein Name taucht in dem Buch nicht deshalb auf, weil ich unter seinem Einfluss stand, als ich es schrieb, sondern weil das Thema des Romans und die damit verbundenen Dilemmata in meinem Verständnis nicht abzutrennen waren von Jouves Umgang mit ihnen, und weil der Stil seiner Romane - er ist elliptisch und von atemlosem Tempo - mir Mut machte, so zu schreiben wie ich es damals versuchte. Man sagt, dass kein Maler mehr in der traditionellen Weise malte, nachdem Masaccio alte überkommene Auffassungen von Perspektive, Anatomie und Farbe umgestaltet hatte. Etwas von derselben Art, übertragen auf das eine oder andere Ausdrucksmittel im Handwerk das Schreibens, bewirkte Jouve bei mir, und deshalb verdiente er eine Hommage. Ein anderes Land in Europa, dem ich mich deutlich, wenn auch weniger stark als im Fall Polens oder Frankreichs, verbunden fühle, ist Italien, Teilschauplatz meiner Romane Wie Max es sah und Mistlers Abschied. Beim Romanschreiben werden einem die Themen und was man damit anfängt von rätselhaften Zwängen zudiktiert. Im Falle von Wie Max es sah war es eine Koinzidenz: Ich hatte das Bedürfnis, die Eingangsszene ausgerechnet an einem Schwimmbecken mit Marmoreinfassung anzusiedeln, und das weckte die Erinnerung an einen Aufenthalt in einer römischen Villa am Ufer des Comer Sees. Daraus ergab sich dann das Übrige. Und doch war dieser Aufenthalt nur kurz gewesen und nicht wiederholt worden. Der Grund, warum Mistlers Abschied weitgehend in Venedig spielt, ist leichter zu erraten: Meine Frau und ich fahren regelmäßig in diese Stadt, von der ich wie mein Protagonist sagen kann: Sie ist der einzige Ort auf der Erde, an dem mich nichts stört. Und in Venedig stirbt Gustav von Aschenbach an der Cholera oder, wenn man so will, an den Schuldgefühlen, mit denen ihn sein Geheimnis quält. Ein weiterer Strang in dem Band, das mich nach Italien zieht, ist wieder eine Koinzidenz. Mein ältester Sohn, Maler und Bildhauer, lebt seit fast zwanzig Jahren in Rom. Aber noch vor meinen ersten Reisen nach Florenz oder Venedig lernte ich die Göttliche Komödie kennen, und seitdem hat Dante mir überall den Blick gelenkt, in Italien ebenso wie beim Schreiben über Polen in Zeiten des Krieges. Vielleicht fragen Sie jetzt: und Deutschland? Gehört es nicht zu Ihrem Europa? Offensichtlich gehört es dazu. Ich wäre ein ganz anderer Mensch mit einem ganz anderen Leben, wenn Deutschland 1939 nicht in Polen einmarschiert wäre, und, in gewisser Weise sogar, wenn Deutschland nicht so nachdrücklich auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges hingearbeitet hätte. Wir alle hier und unsere Eltern und Großeltern hätten dann in einer andersartigen, vielleicht in einer von Deutschland und seiner Kultur geprägten Welt gelebt. Die Erinnerung an den Krieg in Polen ist nicht aus meinem Bewusstsein verdrängt, auch wenn sie, wie ich schon gesagt habe, mit Lügen in Zeiten des Krieges verschmolzen ist, und auch die ganz anders geartete bittersüße Erinnerung an die beiden Jahre, die ich als Soldat der amerikanischen Besatzungstruppen in Göppingen zubrachte, ist nicht verblasst. Jedoch ist inzwischen ein neuer Sachverhalt entstanden: die Aufnahme, die meine Romane bei den deutschen Lesern gefunden haben, vor allem deren offene und mutige Reaktion auf Lügen in Zeiten des Krieges, und die zahllosen Begegnungen mit Deutschen, die sich daran anschlossen. Mit neuen Deutschen, die während des Krieges noch nicht erwachsen waren. Ich kann nicht behaupten, ich hätte die neue Realität schon vollständig in mich aufgenommen oder der alten einen Sinn abgewonnen. Aber ich begrüße diese neue Realität, als Einzelperson und als ehemaliger Bürger Europas. Und womöglich hat die Intensität meiner Begegnungen mit dem vergangenen und dem gegenwärtigen Deutschland dazu geführt, dass meine Beziehung zu diesem Teil meines Europa nicht so sehr literarisch, sondern eher persönlich geprägt ist. [] Deutsch von Christa Krüger, Übersetzerin seiner Bücher. Von Begley ist auf Deutsch u.a. erschienen: Schmidts Bewährung, öS 291,-/EURO 21,15/313 Seiten; Mistlers Abschied, öS 145,-/EURO 10,45/284 Seiten (TB); Lügen in Zeiten des Krieges, öS 181,-/EURO 13,15/222 Seiten; Der Mann, der zu spät kam, öS 291,-/EURO 21,15/284 Seiten. Erscheint im Juni: Das Gelobte Land. Alle bei Suhrkamp, Frankfurt/Main. (DER STANDARD, Printausgabe, Beilage Album, vom 24./25.3.2001)