Wien - Meditativ blubbern die elektronischen Klänge, dann und wann ironisch kommentiert von einer Sliding-Gitarre. Klaustrophobe mochten die musikalischen Streicheleinheiten dennoch wenig trösten: Gänzlich abgedunkelt ist der Raum, mit Dutzenden von Lautsprechern beschallt, aus denen die Klänge des Gitarristen Burkhard Stangl, untermalt von Christof Kurzmanns komplexen Computersounds, ertönten. Der Gag dieser faszinierenden elektronischen Performance in der Black Box des "Klangtheaters" im ORF: Sie lieferte den Soundtrack zu einem alle Konturen der Realität auflösenden, abstrakten Video von Michaela Grill. Live und direkt dazugespielt, die Bilder gleichsam akustisch übermalend. Fragmentarisches Womit das Schnee genannte Experiment sich bestens in das leitende Motto des regenerierten Festivals Hörgänge fügte: Palimpsest visiert natürlich keinesfalls alte Schriftstücke an, die auch noch darunter liegende Schriftzüge enthalten. Vielmehr steht das Wort als Symbol für einen bestimmten Gestus heutigen Komponierens. Womit Thomas Schäfer, der programmverantwortliche Dramaturg des Wiener Konzerthauses, einen thematischen Leitfaden legte, der das Fragmentarische, Gebrochene und Vielschichtige der zeitgenössischen Musik im Innersten traf. Dass die Hörgänge in diesem Jahr eine bemerkenswerte Auferstehung erlebten, lag freilich nicht nur an dem klug gewählten Motto, sondern auch an dem Umstand, dass in den letzten Jahren eine ganze Reihe von talentierten jungen österreichischen Komponisten wie die Pilze aus dem Boden schossen. Allein im Schlusskonzert mit dem "Klangforum Wien" unter Matthias Pintscher - der deutsche Komponist agierte diesmal als präziser Dirigent - traten zwei junge Künstler aus der Talentschmiede Michael Jarrells von der Wiener Musikhochschule mit gelungenen Uraufführungen in Erscheinung: der Oberösterreicher Reinhard Fuchs und der aus Venezuela stammende Jorge Sánchez-Chiong. Klangschleifen Mit dem durch einen Text von Ferdinand Schmatz inspirierten Ensemblestück von der wiederkehr des selben gleichsam zur jagd stellte Fuchs erneut ein enormes Klanggefühl unter Beweis. Mag das Modell immer wiederkehrender Klangfiguren, die durch höchst verschiedene Instrumentierung stets neue musikalische Gestalten annehmen, zwar ein wenig an Kompositionen von Pierre Boulez erinnern, so gelingen dem erst 26-Jährigen schillernde Klangschleifen von höchst eigenständigem Charakter. Eine andere Palimpsest -Form jenseits der Übermalung suchte Sánchez-Chiong in seinem Algarabía , was auf Spanisch viele Stimmen bedeutet, die hastig durcheinander reden: Scheinbar improvisierte Solostimmen werden palimpsestartig übereinander geschichtet, bis sich diese unvermutet doch zu Zusammenklängen fügen. Ein schöner - vom Klangforum Wien perfekt interpretierter - Schlusspunkt hinter ein Festival, das sich diesmal im besten Sinne des Wortes als zeitgenössisch präsentierte. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26. 3. 2001)