Ruth Rothwax ist dreiundvierzig und führt nach drei Scheidungen ein angenehmes Single-Leben in New York: Fitness, Schönheitssalon, Kultur, exklusive Esslokale, gepflegte Wohnverhältnisse, Reisen und andere Annehmlichkeiten peppen ein erfolgreiches Arbeitsleben auf. Der hohe Lebensstandard finanziert sich mit einem kleinen Korrespondenzbüro, bei dem für viel Geld zu nahezu jedem Anlass die entsprechenden Briefe bestellt werden können. Zu schaffen macht ihr nicht ihr geregelter Alltag, sondern die Vergangenheit ihrer Eltern. Die hatten als polnische Juden aus Lodz das Todeslager Auschwitz überlebt; nach Kriegsende emigrierten sie nach Australien, wo sie alle früheren beruflichen Ambitionen über Bord werfen und sich als Fabrikarbeiter durchschlagen mussten. Ruth Rothwax ist ein maßgeschneidertes Beispiel dafür, wie auch das Leben der Nachkommen von Nazi-Opfern noch beeinträchtigt sein kann. Der Geschichte ihrer Familie auf der Spur, auf der Suche nach der "Anwesenheit von Leuten, die nicht mehr anwesend sind", reist sie mit ihrem Vater (die Mutter ist längst gestorben) nach Polen. Gemeinsam besuchen sie das Land seiner Jugend, das ihm zuletzt als Ort unbeschreiblichen Grauens in Erinnerung blieb. Der Roman Zu viele Männer enthält Übereinstimmungen mit dem Leben seiner in New York lebenden Autorin Lily Brett, die vermutlich nicht zufällig sind. Ihre Eltern stammen ebenfalls aus Polen, überlebten das Getto von Lodz und Auschwitz und emigrierten 1948 nach Australien. Nicht ganz unwahrscheinlich ist es also, dass sie auch ihrer eigenen Familie ein Denkmal setzen, Zeugnisse festhalten, persönliche Erfahrungen vermitteln wollte. Auf über 650 Seiten beschreibt Brett den einwöchigen Aufenthalt von Ruth und Edek Rothwax in Lodz, Krakau, Auschwitz. Was sie dabei erleben und an Familiengeschichte aus Edeks Erinnerung ausgraben, ist zwar aufschlussreich, aber natürlich aufwühlend und schmerzvoll, nicht zuletzt wegen des ungebrochenen Antisemitismus, der ihnen auf Schritt und Tritt begegnet. "Reiche Juden" auf der Suche nach Erinnerungen sind für die Polen, die sich selbst für Opfer halten, vor allem ein einträgliches Geschäft. Sie bereichern sich am KZ-Tourismus; sie verlangen Unsummen amerikanischer Dollars für Dinge, die sie in den unrechtmäßig bezogenen Wohnungen der Deportierten vorfanden, und die zwar objektiv nicht viel wert, als Erinnerungsstücke aber unbezahlbar sind (z.B. Fotos von ermordeten Verwandten). Die "Argumente" der Nazipropaganda, so scheint es, sind als Rechtfertigung für materielle Gier und Gewissenlosigkeit immer noch wirksam. Dies mag im Prinzip richtig sein, ist aber sehr simpel dargestellt. Wie Lily Brett die Polen durch die Wahrnehmung ihrer weiblichen Hauptfigur zeichnet, grenzt nämlich genauso an Propaganda, indem sie die Bewohner dieses Landes pauschal als ein Volk amoralischer Untermenschen karikiert, denen man ihre Minderwertigkeit auch ansieht (hässlich, dreckig, verwahrlost). Diesem negativ zugespitzten Polenbild hält sie positive Verallgemeinerungen über Juden oder die jüdische Kultur entgegen - etwa wenn Ruth, während sie entsetzt eine polnische Mutter beobachtet, die ihr Kleinkind schlägt, kategorisch feststellt: "Juden neigen im großen und ganzen nicht zur Anwendung körperlicher Gewalt." Der emotionale Reflex ist angesichts einer bestialischen Massenmordindustrie wie der nationalsozialistischen verständlich. Derart einfache Einteilungen in gute und böse Nationen oder Kulturen sind jedoch kein vernünftiges Erklärungsmodell. Eine gewisse Differenzierung erfährt dieser Umgang mit dem Problem der Kollektivschuld durch die fast gegensätzlichen Reaktionsweisen des Vaters. Während Ruth in ihrer hilflosen Wut am liebsten alles kurz und klein schlagen möchte, bleibt er erstaunlich höflich und freundlich, was nicht bedeutet, dass er nicht auch leidet oder irgendetwas vergessen oder vergeben hätte. Er begegnet dem Mangel an Gerechtigkeit, den absurden Vorurteilen, der Fühllosigkeit gegenüber Holocaustüberlebenden im heutigen Polen mit einer Gelassenheit, die sich aus der Erkenntnis speist: Das wirklich Schlimme ist in der Vergangenheit längst geschehen und damit ist nichts vergleichbar. Und es stellt sich heraus, dass er weit eher in der Lage ist, mit der Vergangenheit abzuschließen, als Ruth, die erst nach dem Krieg zur Welt kam. Wie Brett die innerfamiliären Beziehungen beschreibt, ist überhaupt das Interessanteste an diesem Roman. Für die Tochter sind die Eltern, die auf scheinbar harmlose, kindliche Äußerungen oft mit heftigen Ausbrüchen reagierten, undurchschaubar. Das Trauma der Vergangenheit, das Schweigen der Eltern darüber, ihre Verluste, die beschränkte Vermittelbarkeit ihrer Erfahrung stellen eine Barriere dar, die selbst in der Eltern-Kind-Beziehung kaum überwindlich scheint. Eher konstruiert wirkt in diesem Zusammenhang allerdings die trivialpsychologische Untermauerung der transgenerationellen Auswirkungen des Holocaust durch zahllose Ticks und Neurosen Ruths oder die symbolträchtige Schilderung ihrer Träume. Unnötig ist eigentlich auch das Bemühen, dieser durchaus tragenden und berührenden Familiengeschichte noch zusätzliches Gewicht zu verleihen. Durch eine übertriebene, wiederholungsreiche Ausführlichkeit und die extreme Länge des Buchs; oder durch historische Fakten, die Ruth in langen imaginierten Gesprächen mit dem in der Hölle gelandeten KZ-Leiter Rudolf Höß referiert. Dass diese Gespräche vor allem erzähltechnische Zwecke erfüllen, nämlich, die historische Information irgendwo unterzubringen und zugleich (auf ziemlich platte Weise) den berühmten jüdischen Humor zu bestätigen, ist offensichtlich. [] (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31. 3./1.4. 2001) Zu gewinnen gibt es 3x das Buch "Zu viele Männer". Einfach eMail an gewinnspiel@derStandard.at schicken.