Wien - Die Benes-Dekrete, die die rechtliche Grundlage für die gewaltsame Vertreibung und Enteignung von Millionen Sudetendeutscher in der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten, haben am Donnerstag heftige Debatten bei der tschechisch-österreichischen Dialogkonferenz in der Diplomatischen Akademie in Wien ausgelöst. Die moralische Verurteilung der Vertreibung der Sudetendeutschen und Ungarn nach Kriegsende sei der einzige Kompromiss, auf den man sich einigen könne, fasste Vilem Preean vom Prager Institut für Zeitgeschichte die Diskussion im "Arbeitskreis für historische und rechtliche Aspekte der Zeitgeschichte" zusammen. Der rechtliche Aspekt und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen der Benes-Dekrete waren in der Diskussion umstritten. Das internationale Recht könne auf unterschiedliche Weise interpretiert werden, erklärte Botschafter Hans Winkler, der Leiter des Völkerrechtsbüros im Wiener Außenministerium die problematische Ausgangslage. Seiner Ansicht nach sollten Restitutionsmaßnahmen unabhängig von der ethnischen Herkunft der Opfer bezahlt werden. Auch die Frage, ob die Benes-Dekrete einen Genozid eingeleitet hätten, sei nicht restlos geklärt. Winkler persönlich lehnte die Genozid-Interpretation ab, da die Vertreibung der deutschsprachigen und ungarischen Minderheit nicht als physische Vernichtung einer Volksgruppe konzipiert war. Man dürfe die Voraussetzung der Benes-Dekrete, den Nazi-Terror, nicht aus den Augen verlieren, sagte der Botschafter. Jan Kuklik, Professor für Rechtswissenschaften in Prag, relativierte die heutige Tragweite der Benes-Dekrete. Einige der zwischen 1940 und 1948 erlassenen Dekrete seien durch die Verabschiedung neuer Gesetze nicht mehr relevant. Zudem wären die Dekrete durch die 1991 im Verfassungsrang übernommenen Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention wirkungslos geworden. Die allgemeine Abschaffung der Benes-Dekrete werde von manchen Tschechen als Angriff auf ihre nationale Identität gesehen, erklärte Kuklik. Es fehle die rechtliche Basis für Entschädigungsansprüche von Seiten Österreichs, meinte Gabriel Lansky, Rechtsanwalt der tschechischen Botschaft in Wien. Der frühere ÖVP-Abgeordnete Josef Höchtl konterte, "wir brauchen nicht nur eine Erklärung von Schuldbekenntnis von tschechischer Seite sondern auch eine Lösung, der Schritte, wie etwa Restitutionen folgen". Höchtl erinnerte daran, dass es 1999 der ÖVP im Parlament gelungen war, einen Entschließungsantrag mit großer Mehrheit durchzusetzen, der die Regierung auffordere, gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten der EU und den EU-Institutionen auf die Aufhebung der Benes-Dekrete hinzuwirken. Das Impulsreferat des Grazer Historikers Stefan Karner hatte einen historischen Abriss der Vertreibung zum Inhalt. So sei die Arbeitslosigkeit der Sudetendeutschen 1936 etwa vier Mal so hoch wie der Durchschnitt der tschechischen Bevölkerung gewesen und es seien jene Mitglieder der Sudetendeutschen-Partei, die sich gegen einen Anschluss an Hitler-Deutschland gestellt hätten, in Konzentrationslagern der Nazis geendet. Nach dem Einmarsch der Roten Armee seien Sudetendeutsche ohne Rücksicht auf Schuld oder Nichtschuld aus dem Land vertrieben worden. Die der Benes-Dekrete zu Grunde liegende These der Kollektivschuld gelte in Tschechien nach wie vor. Der Leiter der Mitteleuropa-Abteilung des tschechischen Außenministeriums, Jiri Sitler, widersprach einem Vorwurf aus dem Publikum, wonach von tschechischer Seite die Frage der moralischen Verantwortung immer mehr unter den Tisch gekehrt werde. (APA)