Obwohl die marxistische Ökonomie für über 100 Jahre eine bedeutende Rolle in den politischen Auseinandersetzungen spielte, gab es nur ganz wenige wirtschaftswissenschaftliche Werke, die mit den theoretischen Konzepten von Karl Marx neuere wirtschaftliche Entwicklungen analysiert hatten. An erster Stelle ist jedenfalls das 1910 erschienene Buch Das Finanzkapital des Österreichers Rudolf Hilferding, der später zweimal in Deutschland für die Sozialdemokratie Finanzminister war, zu nennen. Der Anspruch des Buches war, die Strukturen und die Dynamik des Kapitalismus der Zeit nach Marx mit dessen Theorie zu analysieren und daraus Schlüsse für die sozialistische Politik zu ziehen.

Für Hilferding war das entscheidende Neue am Kapitalismus an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert die Konzentration der Unternehmen in großen Trusts, die zunehmende Bedeutung von Banken, die Abkehr vom Freihandel zwischen den industrialisierten Ländern und die Aufteilung der restlichen Welt in koloniale Abhängigkeiten. Alle vier Tendenzen sind in der Theorie von Hilferding eng miteinander verflochten.

Moderne technische Verfahren ermöglichen sinkende Stückkosten, setzen aber vor Beginn der Produktion einen sehr hohen Kapitaleinsatz für die dafür notwendigen Investitionen voraus. Nicht nur verlangt dies eine hohe Konzentration der Unternehmen, sodass nur wenige Anbieter am Markt überleben können, auch die Finanzierung des Kapitalstocks verlangt eine Zentralisierung von Kapitalien über die Akkumulation der Gewinne in Großunternehmen hinaus. Die Banken haben wegen der deswegen vorhandenen Notwendigkeit, Kapital von außen den Industrieunternehmen zuzuführen eine wichtige Funktion: Sie sammeln die Ersparnisse der ganzen Wirtschaft, um sie den wenigen Konzernen für deren Investitionen zur Verfügung zu stellen. Diese Kapitalien können zwar am Profit der Unternehmen mitnaschen - Zinsen bei Krediten, Dividenden bei Aktien -, aber mit dem Eigentum von solchen Vermögen ist keine Entscheidungsmacht in der Wirtschaft verbunden.

Die eigentlichen Eigentümer der großen Industrie erhalten den größten Teil der Profite der Industrie, der Anteil der sonstigen Kapitaleigentümer am Profit wird hingegen auf den allgemeinen Zinsertrag gedrückt. Durch die Funktion, die Industrie mit Kapital zu versorgen, gelingt es den Banken, die Industrie zu beherrschen. Sie sind die eigentlichen Akteure der wirtschaftlichen Entwicklung im (zur Zeit Hilferdings) modernen Kapitalismus - das Finanzkapital.

Diese strukturelle Änderung in der kapitalistischen Ökonomie ist mit wichtigen wirtschaftlichen und politischen Änderungen verbunden. Die Anarchie des Marktes wird nämlich durch die langfristige Planung der großen Konzerne und Trusts ersetzt. Freilich ist diese Planung am Profitinteresse der Konzerne orientiert und nicht an gesellschaftlichen Bedürfnissen. Jedenfalls können große Krisen durch das Finanzkapital vermieden werden. Die politische Änderung betrifft die Haltung zum Staat und zur Nation. Während die Kapitalisten ursprünglich für den Freihandel waren, will das moderne Kapital die Abschließung des eigenen Marktes gegenüber dem Ausland und die Sicherung fremder Rohstoffbasen in Kolonien und Staaten in anderen Formen der Abhängigkeit. Die nationale Organisierung des Kapitals für den Kampf um weltweite Herrschaft wird zum politischen Mittel zur Erzielung und Sicherung von Profit. Auch der Krieg ist in diesem Kampf ein für die Herrschaft des Kapitals zulässiges Instrument.

Die Arbeiterklasse und damit die sozialistische Bewegung steht durch diese Entwicklung des Kapitalismus vor im Vergleich zum 19. Jahrhundert geänderten Bedingungen. Die Organisierung der Arbeiter in Gewerkschaften und der sozialistischen Partei ist in den Großunternehmen einfacher als in den Kleinbetrieben des Konkurrenzkapitalismus. Alle Mittelschichten werden vom Finanzkapital wirtschaftlich an den Rand gedrängt und daher zu Gegnern des Finanzkapitals. Eine kleine Oligarchie beherrscht letztlich die ganze Gesellschaft, die von der revolutionär sozialistischen Partei bekämpft werden kann. Die vom Finanzkapital begonnene langfristige Planung erleichtert der in Zukunft siegreichen sozialistischen Bewegung die Planung der Wirtschaft im Interesse der Arbeiterklasse.

Das Werk von Hilferding hatte großen Erfolg und beeinflusste die sozialistische Bewegung vor allem in Zentral- und Osteuropa nachhaltig. Das Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Lenins "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus", wichtig für die kommunistische Bewegung bis zu ihrem Ende, ist in vielen Aspekten eine vulgärere Fassung derselben Thesen. Hilferdings Behauptungen entsprachen wohl dem politischen Gefühl der damaligen Zeit: Gewerkschaften und sozialistische Parteien wuchsen von Jahr zu Jahr. Die Großindustrie gewann rasch an Einfluss und die Vorstellung, dass die ganze Wirtschaft von großen Unternehmen beherrscht wird, war bis vor kurzer Zeit weit verbreitet. Die Bedeutung der Banken war bei der industriellen Entwicklung in Europa (sieht man von Großbritannien ab) sehr groß. Die teilweise noch existierenden Beteiligungen von Banken an Industriebetrieben und die im Vergleich zum Textbuchkapitalismus (und zur USA) geringe Bedeutung von Finanzmärkten in Europa sind Folgen dieser früheren Dominanz der Banken für die Organisierung von Kapital. Schließlich schien der Erste Weltkrieg eine Bestätigung von Hilferdings Theorie zu sein.

Die spätere Entwicklung des kapitalistischen Systems kann aber nicht mithilfe dieser Theorien verstanden werden. Die Bankenkrise und die Weltwirtschaftskrise ab 1929 müssen als Widerlegung der Behauptung von der Planung durch das Finanzkapital gesehen werden. Der Zweite Weltkrieg kann sicher nicht auf der Basis dieser Theorie gedeutet werden, auch wenn das die kommunistische Agitation während der Gültigkeit des Hitler-Stalin-Paktes versuchte. Der Zerfall der Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg führte nicht zu einer Schwächung der kapitalistischen Dominanz. Ganz im Gegenteil: Nur diejenigen der früher abhängigen Wirtschaften entwickelten sich, die einen kapitalistischen Weg beschritten hatten. Auf der anderen Seite erfuhren die früheren Kolonialmächte keine langfristige Schwächung durch den Verlust kolonialer und imperialer Dominanz.

Vor allem aber kann die gegenwärtige Wirtschaft sicher nicht durch die stabile Herrschaft weniger Großkonzerne oder durch die Dominanz der Banken über die Industrie charakterisiert werden. Güter- und Finanzmärkte mit langfristig hoher Konkurrenz und politische Regulierung aller Märkte sind das Kennzeichen moderner Wirtschaften geworden. Auf diesen Märkten gelingt es zwar jungen Unternehmen, mit neuen Techniken einige Zeit hindurch enorme Profite zu erwirtschaften, aber die Monopolmacht, auf der diese Profite beruhen, gehen durch technologische Veränderungen wieder verloren. Zumindest in den letzten Jahrzehnten waren seit langem bestehende Großkonzerne nicht die Träger technologischen Fortschritts.

In allen modernen Gesellschaften ist es auch eine faktische Selbstverständlichkeit, dass Märkte reguliert werden müssen. Gerade der Finanz- und Bankenbereich ist sehr stark von Regulierungen betroffen. In den USA ist es den Banken seit den 20er-Jahren untersagt, sich direkt an anderen Unternehmen zu beteiligen. Auch andere Einschränkungen schwächen eine mögliche Dominanz der Banken über andere Unternehmen. Die von Hilferding analysierte nationale Organisierung von Unternehmen ist wiederum einer internationalen Ausrichtung gewichen: Die großen Unternehmen sind transnationale Konzerne geworden. Um den gegenwärtigen Kapitalismus zu analysieren, ist wenig sinnvoll, heute Hilferdings Werk zu lesen. Aber zum Verständnis europäischer politischer Strömungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Werk eine unverzichtbare Lektüre. [] Peter Rosner ist Dozent am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Universität Wien. (DER STANDARD, 2./3./4. Juni 2001)