Die "Biopolitik"-Debatte, die seit Wochen die deutsche Öffentlichkeit beherrscht, hat, gemessen an ihrer relativ kurzen Dauer, eine beträchtliche Zahl an endgültig anmutenden Ergebnissen vorzuweisen: Der Ethikrat des Bundeskanzlers, der sich gestern in Berlin konstituierte, wurde als "pharmazeutisch-industrieller Legitimationsrat" enttarnt. Die Allianz aus Grünen und Katholiken, die sich strikt gegen jede Form von Embryonenforschung und Präimplantationsdiagnostik ausspricht, wurde von strengen PragmatikerInnen des "Moralismus" überführt. Der nordrhein-westfälische Superpragmatiker Wolfgang Clement, der eine Gesetzeslücke für den Import embryonaler Stammzellen nutzen will, steht als "Putschist" vor dem medialen Gericht. FAZ-Herausgeber und Feuilleton-Chef Frank Schirrmacher schließlich, der mit seiner imposanten Truppe die Debatte über weite Strecken dominierte, wurde von den Hohepriestern der Aufklärung feierlich wegen unerlaubten Übertritts zur "Bioreligion" verurteilt. Solche Wertungsexzesse, die dem Beobachter eine interessante, wenn auch beklemmende Aussicht auf den ideologischen Bürgerkrieg vermitteln, nennt man heute "Ethikdebatten". Wenn die Skeptiker die Enthusiasten wegen deren "Heilsfantasien" von Unsterblichkeit und ewiger Jugend geißeln, während die Enthusiasten die SkeptikerInnen als arbeitsplatzvernichtende Fortschrittsverweigerer diffamieren, verfestigt sich allerdings der Eindruck, Ethik sei in erster Linie das, was wir von den anderen erwarten. Das "biopolitische Zeitalter", in das wir eingetreten sind, wird, wie es Bill Joy vor einem Jahr in seinem düsteren Essay "Warum die Zukunft uns nicht braucht" angedeutet hat, durch das Zusammenwachsen von Gentechnik, künstlicher Intelligenz und Computerwissenschaften geprägt sein. Und das dürfte uns zur Neudefinition von Begriffen wie "Art", "Individualität" und "Gesellschaft" zwingen. Die Debatte in Deutschland und in Österreich (hierzulande freilich in jenem begrenzten Ausmaß, das der Begrenztheit der intellektuellen Ressourcen entspricht) dreht sich derzeit fast ausschließlich um die Frage der Embryonenforschung. Das ist kein Zufall: Es zeigt einmal mehr, dass wir am Beginn des neuen Zeitalters mit dem alten, dem Jahrhundert der industriellen Massenvernichtung nicht fertig sind. Die jetzt vor diesem Hintergrund diskutierte Frage, was Leben ist, wann es beginnt, wie es zu schützen wäre und unter welchen Umständen die Vernachlässigung dieses Schutzes zu akzeptieren wäre, muss von der Gesellschaft, also vom Gesetzgeber, eindeutig beantwortet werden. Zugleich muss uns aber klar sein, dass es sich dabei um eine Randfrage handelt. Das liegt nicht nur daran, dass sich möglicherweise schon bald die Arbeit mit adulten Stammzellen als mindestens genauso erfolgversprechend herausstellen wird. Es liegt vor allem daran, dass die explosive Verbindung von Genetik und Datenverarbeitung - Stichwort: der gläserne Mensch - die größere Herausforderung darstellen wird. Michael Fleischhacker - DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 9./10.06.2001