Mauerbach/Wien - Nicht, wie die Sage läuft, der Herr der Finsternis, sondern ein sehr diesseitiger deutscher Kunsthistoriker von einer kanadischen Universität könnte den Stephansdom-Mythos, wie er bisher lautet, zum Absturz bringen. Blatt für Blatt sei er die Zeichnungen und 286 Risse aus der Erbauerzeit des kirchlichen Wiener Wahrzeichens durchgegangen. Habe Zeichenstile minutiös miteinander verglichen und mit historischen Daten in Einklang gebracht, erläutert Hans J. Böker vom Department of Art History der Montrealer McGill University. Und sei zu dem Schluss gekommen: "Nicht, wie bisher angenommen Dombaumeister Hans Puxbaum, sondern sein Vorgänger Laurenz Spenning hat die Planrisse des nie vollendeten Nordturmes von St. Stephan angefertigt." Mehr noch. Auch die Planung des Langhausgewölbes, der Westempore und des Singertores gehe auf den bisher kaum bekannten Berufskollegen Puxbaums zurück, meint der Experte. Auf Laurenz Spenning, einen frühen Mitteleuropäer, der unter anderem für die Entwürfe des Pressburger Doms, der Znaimer Haupt- und der Brünner Jakobskirche verantwortlich gezeichnet habe. Sowie "für die Wölbung in der Wiener Kirche Maria am Gestade". Von 1455 bis 1477 sei Spenning in St. Stephan tätig gewesen, fasst Böker zusammen; von Pakten mit höllischen Instanzen, wie sie Puxbaum nachgesagt werden, sei bei ihm nichts bekannt. Mythologischer Nachholbedarf also angesichts eines "vielleicht neuen Kapitels der österreichischen Kunstgeschichte", wie Monika Knofler vom Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste erläutert. Nie erbauter Nordturm Ab 12. Juni kann in das den Entwürfen entrissene Geheimnis Einsicht genommen werden. Im Rahmen der Ausstellung "Geheimnis im Stein. Das Erbe der mittelalterlichen Dombauhütte und ihrer Meister" in der Kartause Mauerbach bei Wien, dem Zentrum für historische Baupflege des Bundesdenkmalamts. Dort prangen die alten Risse unter gedämpfter Beleuchtung an der Wand, und auch der vier Meter lange Orginalentwurf des nie erbauten Ostturms ist zu sehen. Originalgotik auf rissigem, 500 Jahre altem Pergament, und doch "auch heute noch von praktischem Wert", wie Knofler betont. Zum Beispiel für Architekten. Ein Bezug zur Moderne, den draußen im Kartausenhof auch ein Steinmetz geräuschvoll demonstriert. Im Auftrag der Steinmetzinnung schlägt er auf einen Rohblock ein. Ganz so, wie auch heute noch "in Stein" am Dom gearbeitet wird. (bri/ DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12. 6. 2001)