Keine zweite Oper, sondern eine dringend notwendige Ausbildungsstätte für MusikerInnen und SängerInnen könnte Graz in die (bau-)kulturelle Oberliga katapultieren. Ein baureifes Projekt wäre bereits vorhanden. Der künftige Nutzer bangt um dessen Realisierung. Im Juli sollte mit dem Bau der neuen Musikfakultät in Graz begonnen werden. Ein baureifes Projekt des Amsterdamer Büros UN Studio Van Berkel & Bos, das 1998 den EU-weiten, offenen Architektenwettbewerb gewonnen hat, liegt termingerecht vor. Und doch gibt es weit und breit keine Anzeichen, dass in näherer Zukunft mit dem Bau der Ausbildungsstätte, die endlich die so dringend benötigten Probe- und Aufführungsräume bereitstellen könnte, begonnen wird. Ein Baubeginn Anfang 2002, heißt es nun, sei realistisch. Eine Fertigstellung zum Grazer Kulturhauptstadtjahr 2003 scheint fraglich. Die Baufreigabe durch das Wissenschaftsministerium erfolgte jedenfalls noch nicht. Dafür mehren sich die Gerüchte, dass es im Ministerium Vorbehalte gegen den Bau gebe, auch Meldungen à la "Graz braucht keine zweite Oper" werden kolportiert. An dieser Stelle muss ein kursierender Irrglaube ausgeräumt werden: Graz wird keine zweite Oper bekommen, sondern eine Fakultät für Musik, die eben auch einen Konzertsaal beherbergt. Die klingende Bezeichnung "Haus für Musik und Musiktheater", kurz MUMUTH, dürfte Verwirrung gestiftet haben. Bereits seit dreißig Jahren meldet die Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, die zu den renommiertesten Ausbildungsstätten für Musik und Musiktheater in Europa zählt, nun schon Bedarf an adäquaten Räumlichkeiten an. Die Raumsituation ist besonders in den Ausbildungszweigen Instrumentalmusik und Musiktheater verheerend. Europaweit ist Graz die einzige Ausbildungsstätte dieser Art ohne eigenen Konzertsaal. Für Proben und Auftritte müssen Räumlichkeiten teuer angemietet werden. Kein Wunder, dass Universitätsprofessor Christian Pöppelreiter, Leiter des Instituts für Musiktheater und Beauftragter der Universität für diesen Bau, der Verzweiflung nahe ist: "Unsere Arbeit ist akut gefährdet." Die Bedürfnisse der Studenten können nicht länger befriedigt werden, und die Studentenzahl, die sich seit 1989 verfünffacht hat, müsste gesenkt werden, ist er überzeugt, wenn die derzeit offenbar populäre Maßnahme, bei der Kunst zu sparen, auch hier greifen sollte. Eine Sparmaßnahme, die für die Universität allerdings nicht billig wäre: Mit rund 60.000 Schilling schlägt derzeit die Tagesmiete für einen Konzertsaal zu Buche. Langfristig käme daher auch unter ganz kühlen kalkulatorischen Gesichtpunkten der mit vergleichsweise bescheidenen 145 Millionen projektierte Neubau günstiger. Auch der Innsbrucker Architekt Peter Lorenz, Juryvorsitzender beim Wettbewerb, ist überzeugt, dass es sich um "ein einzigartiges und faszinierendes Gebäude handeln wird. Das Planerteam hat gute Arbeit geleistet und wird aufgrund seiner Erfahrung die projektierten Kosten einhalten können und müssen". Der derzeitige Trend, zulasten der Kultur in IT-Einrichtungen zu investieren, sei in einem Land, dessen größtes Potenzial die Kultur ist, das falsche Signal, so Lorenz. Konstruktive Basis der Grazer Musikfakultät ist ein dreidimensionales Stahlbetontragsystem, das von einem der weltweit besten Konstrukteure, dem Briten Cecil Balmond aus dem Ingenieurbüro Ove Arup & Partners, in Zusammenarbeit mit dem UN Studio entwickelt wurde. Umhüllt wird der Bau von einer Glashaut, ein Vorhang aus Edelstahlgewebe wird für einen 50-prozentigen Abschattungsgrad sorgen. Die Transparenz der Fassade lässt die Landschaft des angrenzenden Parks zum Teil der Inszenierung des Foyers und der expressiven Treppenaufgänge werden; die Computer-Renderings versprechen einen Bau von besonderem Flair und musikalischer Leichtigkeit. Aber nicht nur über den baukünstlerischen Wert ihrer künftigen Wirkungsstätte zeigen sich die Nutzer begeistert: Das Raumangebot sei für die Zwecke der Musikuniversität optimal. Das Gebäude enthält mehrere Proberäume, Werkstätten, Lagerräume und was sonst noch notwendig ist. Besonders freut man sich auf den multifunktionalen Bühnenraum, der für Liederabende, Sinfoniekonzerte und Opernaufführungen gleichermaßen adaptierbar sein muss. Die Grazer Musiker sind voll des Lobes über die höchst kooperative Arbeit mit dem Amsterdamer Architektenteam und hoffen, nicht mehr lange die einzige europäische Musikhochschule ohne eigenen Konzertsaal sein zu müssen. Während man in Graz um ein Stück Architektur bangt, ist das UN Studio zu jedem wesentlichen Kulturbau-Wettbewerb in den USA geladen und räumt weltweit Wettbewerbserfolge ab: Der erste im Amerika realisierte Bau des an der Princeton University unterrichtenden Paares Ben van Berkel und Caroline Bos wird der Umbau des riesigen Wadsworth Atheneum Museum in Hartford, Connecticut sein. Bei den noch nicht entschiedenen Wettbewerben für das Carnegie Science Center in Pittsburgh und die Erweiterung des Akron Art Museum in Ohio kamen sie in die Schlussauswahl, in ihrer Heimat sind sie eines von drei Teams, die für die Renovierung des Amsterdamer Jüdischen Historischen Museums infrage kommen. Besonders freut man sich im Büro zurzeit aber über den Gewinn eines Megaprojektes in Italien. Es handelt sich um die Wiederbelebung eines Hafenareals in Genua, den 23.000 Quadratmeter großen Pier Ponte Parodi. UN Studio überzeugte mit einer dreidimensionalen öffentlichen Piazza, die parallel zahlreiche Funktionen kultureller Natur über Sportplätze, Gastronomie, Geschäfte sowie einen Kreuzfahrtsterminal beinhaltet. Das "Dach" der Anlage ist als Park mit Sportflächen und Strandbereichen gestaltet, von dem aus der Blick auf die Stadt erhalten bleibt. Rund um die Uhr soll nach den Vorstellungen der Architekten die dreidimensionale Unterhaltungslandschaft Genuesern und Touristen zur Verfügung stehen und der italienischen Hafenstadt zu einer neuen Identität verhelfen. Es ist beabsichtigt, das 100-Millionen-Euro-Projekt bis 2004 - dann ist Genua eine der europäischen Kulturhauptstädte - fertig zu stellen. Wird es zu schaffen sein, ein vergleichsweise einfaches Projekt, das bereits als baureife Planung vorliegt, rechtzeitig zum Grazer Kulturhauptstadtjahr 2003 fertig zu stellen? (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16./17. 6. 2001)