Natur
Industrielle Götterdämmerung über der Arktis
Der Nordpolregion droht bis 2050 weitgehende Industrialisierung
Washington - Die Erschließung der Arktis durch Öl-
und Bergbaufirmen und der Bau von neuen Straßen und Häfen wird
nach Ansicht von Wissenschaftlern zu beispiellosen Zerstörungen
führen.
Werden die jetzt bestehenden Pläne zur Erschließung des
Nordpolargebiets umgesetzt, dann wären bis zum Jahr 2050 80
Prozent des arktischen Territoriums industriell erschlossen, hat
das Forschungszentrum des UN-Umweltprogramms (UNEP) im
norwegischen Arendal ermittelt. Die Ergebnisse der Untersuchung,
die auf weiteren 200 internationalen Studien und Satellitendaten
beruhen, sind auch im Internet abrufbar (siehe linke Spalte).
Große Projekte sind derzeit in den USA im 'US Arctic National
Wildlife Refuge' von Alaska, auf der russischen Yamal-Halbinsel
und in der russischen Barentssee-Region geplant. Dazu zählt auch
das ehrgeizige Vorhaben Russlands, einen neuen Seeweg von der
Barentssee zur Beringstraße zu erschließen. Die sogenannte
Nordostpassage würde den Seeweg nach Nord- und Ostasien um die
Hälfte verkürzen.
Nach Meinung der norwegischen UNEP-Forscher würde die
Etablierung einer Nordostpassage die Ausbeutung der Bodenschätze
der Arktis massiv vorantreiben. Die Folgen wären Entwaldung,
Übernutzung, Gewässerverschmutzung, Landzerstörung und die
Vernichtung vieler Rückzugsgebiete für seltene Arten, warnt der
Arendal-Experte Svein Tveitdal. Der industriellen Erschließung
würden Siedler auf dem Fuße folgen, die auch noch die letzten
verbliebenen Naturgebiete verdrängten.
Bei ihren Hochrechnungen haben die UNEP-Forscher das derzeitige
Erschließungstempo zugrundegelegt und kommen zu dem Ergebnis, dass
bis 2050 rund 80 Prozent aller Ökosysteme schwer gestört sein
würden. Derzeit sind nur 15 Prozent der arktischen Regionen
erschlossen. Selbst unter Annahme eines langsameren Tempos, wie es
zwischen 1940 und 1990 herrschte, wären 2050 schon 40 Prozent
aller nordpolaren Ökosysteme schwer beeinträchtigt.
Rentiere, Caribou-Hirsche, Wölfe, Polar- und Braunbären sowie
unzählige Vogelarten könnten dadurch soweit verdrängt und
dezimiert werden, dass viele Arten kurz vor dem Aussterben
stünden, so der UNEP-Bericht. Jede Störung ihres Lebensgebietes
bedrohe ihr Revier und schränke ihre Reproduktionsfähigkeit weiter
ein.
Rentiere und Caribous reagieren besonders empfindlich auf
menschliche Aktivitäten. Im Umkreis von zehn Kilometern um neue
Straßen, Stromleitungen und Siedlungen reduziert sich ihre
Population um 50 bis 90 Prozent. Auch arktische Vögel fühlen sich
schnell gestört. Im Umkreis von 1,5 Kilometern um neue Straßen
wurde ein Rückgang der Zahl der Vögel um bis zu 44 Prozent
registriert.
"Die kumulativen Auswirkungen schon der jetzt betriebenen
Einzelprojekte in der Arktis hat weitreichende Auswirkungen auf
die Ökosysteme und die Permafrostböden durch die Veränderung der
Wassernutzung und zunehmende Verschmutzung", so die UNEP-Forscher.
Die Auswirkungen einer Straße auf die Vegetation ließen sich in
der Arktis noch in einem Abstand von zehn Kilometern feststellen.
Folgen hat die Erschließung durch Straßen und Industrie aber
auch für viele Ureinwohnergemeinschaften, die seit Jahrtausenden
in der Region ein ursprüngliches Leben führen. Die Vertreibung und
Dezimierung des Wildtierbestandes bedroht direkt die
Lebensgrundlage vieler Menschen. Kulturell und sozial droht ihnen
durch das Vordringen von Industrie und neuen Siedlungen die
Zerstörung.
Mit dem tatsächlichen Schutz der derzeit bestehenden
Naturschutzgebiete in der Arktis ist es indessen nicht weit her,
befinden die UNEP-Wissenschaftler. "Viele Schlüsselgebiete sind in
Wahrheit armselig geschützt, vor allem im südlichen Teil der
Arktis, in dem die Entwicklung am heftigsten voranschreitet",
warnt Mark Collins vom UNEP-Überwachungszentrum für Naturschutz im
britischen Cambridge. (IPS)