DER STANDARD: Wie stellt sich die Situation der FPÖ aus psychoanalytischer Sicht dar? Pritz: Sie befindet sich in einer spätpubertären Krise, die nach der Rebellionsphase durch die Übernahme von Verantwortung ausgelöst wurde. DER STANDARD: Und außerdem will sie noch geliebt werden? Pritz: Ja, die Achtung der Wähler ist eine Existenzfrage. Aber es sind ja - zum Glück für die FPÖ - jetzt keine Wahlen. DER STANDARD: Benimmt sie sich nicht, als wäre Wahlkampf? Pritz: Diese Unruhe in der Partei gab es immer. Nur hat sich die Aggression immer auf "die da oben" gerichtet. Jetzt fehlt plötzlich der Gegner. Das wiederum führt zu einer verschärften Auseinandersetzung innerhalb der Partei. DER STANDARD: Welche Gruppenphänomene ergeben sich daraus? Pritz: Es bilden sich Cliquen. Dazu kommt noch, dass der Parteiführer keine zentrale Machtposition mehr hat. DER STANDARD: Nehmen die FPÖ- Wähler "ihren Jörg" nicht dennoch als Rudelführer wahr? Pritz: Doch. Trotzdem ist er nur an der Peripherie der Macht. Das spürt die ganze Partei. Die FPÖ scheint sich nach einer neuen Haut zu sehnen. Die alte Haut passt nicht mehr, und eine neue gibt’s noch nicht. Das ist natürlich ein Reifungsprozess. DER STANDARD: Man muss sich vom alten Revoluzzerimage befreien, weil man jetzt dem Establishment angehört? Pritz: Genau. Ein Zeichen dafür ist, mit welcher Begeisterung die neuen Herrscher ihre Bundesorden tragen. Aber viele in der Partei, die den revolutionären Robin- Hood-Dress ihres Parteiführers ohne Krawatte gewohnt waren, reagieren möglicherweise irritiert. DER STANDARD: Da gäbe es das smarte Gegenbild des Finanzministers Karl-Heinz Grasser, der offenbar keinen Robin- Hood-Stil schätzt. Pritz: Aber der wird so wie die Vizekanzlerin als Hausverweser betrachtet - als attraktiver Hausverweser. DER STANDARD: Wie schaut die Rolle von Kanzler Schüssel im Reifungsprozess der FPÖ aus? Pritz: Er ist quasi der ältere Bruder. DER STANDARD: . . . der gelegentlich den Kleineren eine aufs Dach gibt, ohne dass es außerhalb der Familie bemerkt werden soll? Pritz: Ich persönlich finde ja bedauerlich, dass gewisse Debatten wie etwa jene über die Abfangjäger nie in intensiver Weise öffentlich ausgetragen werden. Das wird immer gleich als Koalitionskrise interpretiert. Dadurch kommt es zu diesen typisch österreichischen Heimlichtuereien. DER STANDARD: Wer soll denn die "neue" FPÖ wählen? Pritz: Ihre Reformkonzepte sind nicht übermäßig originell. In der Sozialversicherung sehe ich das deutlich. Es ist auch eine ungewöhnliche Ungeschicklichkeit, sich auf Hauptverbandspräsident Sallmutter einzuschießen. Er passt als Arbeitnehmervertreter ja auch gar nicht in das Bild des Bonzen. DER STANDARD: Und wie wär’s, wenn die FPÖ ihren Wählern suggeriert, für eine Art Aufbruchsstimmung im Land verantwortlich zu sein? Pritz: Es herrscht weniger Aufbruchs- denn Abbruchstimmung. Und obwohl Susanne Riess-Passer Vizekanzlerin ist, gelingt es ihr nicht, Sallmutter abzuschießen. Das ist ein Schwächezeichen beziehungsweise eine Fehleinschätzung der realen Gegebenheiten. Die Vorstellung, dass man als Minister sehr viel Spielraum hat, muss man aufgeben, wenn man im Amt ist. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 23./24. 6. 2001)