Wien - Eine gestiegene Lebenserwartung, insbesondere bei Menschen ohne ernsthafte Behinderung, ein beeindruckender Grad der Zufriedenheit mit Gesundheitszustand, Leben und Einkommen, aber auch noch immer bestehende große Einkommensunterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten sind wichtige Ergebnisse der Analyse sozialer Trends in Europa, die in dem von der GD Beschäftigung und Soziale Angelegenheiten der EU-Kommission gemeinsam mit Eurostat verfassten Jahresbericht 2001 über die soziale Lage in Europa, dem zweiten seiner Art, aufscheint. Bevölkerung, Lebensbedingungen, Einkommensverteilung Schlüsselbereiche dieses Referenzdokumentes, das am Mittwoch in Wien vorgestellt wurde, sind dabei Bevölkerung, Lebensbedingungen, Einkommensverteilung, sowie Vertrauen in die Gesellschaft und soziale Beteiligung. Das Dokument zeigt auch auf, wie seit den EU-Gipfeln von Lissabon und Nizza trotz Subsidiarität die Sozialpolitik in der EU, insbesondere familienrelevante Aspekte, eine bedeutende Aufwertung im Rahmen der Gemeinschaftspolitik erhalten hat. Steigende Lebenserwartung Im Hinblick auf die Bevölkerung ist eine steigende Lebenserwartung im EU-Raum zu registrieren: bei Frauen beträgt die Lebenserwartung durchschnittlich 74 Jahre, bei Männern 69 Jahre. Die Fruchtbarkeitsraten sinken zwar nicht mehr so stark wie noch vor einigen Jahren , befinden sich aber in den meisten Mitgliedstaaten auf einem äußerst niedrigen Niveau. Verlängerte Lebensspanne und ungünstige Fertilitätstrends führen zu beschleunigter Alterung der Bevölkerung - in den kommenden 15 Jahren werde sich die Zahl der über 80-jährigen EuropäerInnen um 50 Prozent erhöhen, jene der bis zu 24-jährigen um etwa sieben Prozent zurückgehen. Dies werde Europa mit dem Problem einer immer älter werdenden und abnehmenden Erwerbsbevölkerung konfrontierten. Die Hauptgruppe (25-54 Jahre) dieser erwerbsfähigen Bevölkerung werde in den nächsten 15 Jahren um etwa drei Prozent abnehmen, die der 55-64-jährigen um fast 20 Prozent zunehmen. Beeindruckende Zufriedenheit Bei den Lebensbedingungen ist ein beeindruckender Grad der Zufriedenheit unter den Europäern festgestellt worden - mit Gesundheit, Leben im Allgemeinen und mit dem Einkommen. Es dominiert die Gesundheit vor dem Einkommen, dicht gefolgt vom Familienleben. Auch Bildung ist ein wichtiger Faktor der Lebensqualität, der sich auf Beschäftigung, Einkommen, Gesundheit und soziale Beteiligung auswirkt. Heute ist das Niveau der Bildungsabschlüsse doppelt so hoch wie vor 30 Jahren. Trotz zunehmender Individualisierung und größerer Unbeständigkeit der Ehe ist die Familie weiter Dreh- und Angelpunkt des sozialen Lebens. Weiterhin große Einkommensunterschiede gibt es laut Bericht zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Darüber hinaus weisen Mitgliedstaaten mit niedrigerem Durchschnittseinkommen gewöhnlich ein größeres Einkommensgefälle auf. 80 Prozent der Europäer meinen, die Einkommensdifferenzen seien zu groß und für die Gesellschaft nicht gut. Mehrheitlich wird auch die Ansicht vertreten, dass sich die Regierungen mit diesem Problem befassen sollten. Die Analyse über Vertrauen in die Gesellschaft und soziale Beteiligung zeigt, dass die flexible Gestaltung von Beschäftigung und Arbeitsbedingungen die Möglichkeiten für die Beteiligung am Erwerbsleben erhöht. Teilzeitbeschäftigung und befristete Arbeitsverträge seien inzwischen gängige Strukturmerkmale der Beschäftigung in der EU. Für Frauen hätten sich die Möglichkeiten einer gleichberechtigten Teilnahme an der Gesellschaft stark verbessert, nach wie vor gebe es aber Ungleichheiten in der Repräsentation der Geschlechter im wirtschaftlichen und politischen Leben. In nationalen Parlamenten entfalle nur jeder fünfte Sitz auf eine Frau. Große Unterschiede bestünden sowohl innerhalb als auch zwischen den Mitgliedstaaten beim Internet-Zugang. Überraschend gering ist mit 40 Prozent das Vertrauen europäischer Bürger in zentrale Behörden wie den öffentlichen Dienst. Neue politische Herausforderungen Als politische Herausforderungen angesichts dieser Analysen betonte Fritz von Nordheim Nielsen von der GD für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten der EU-Kommision bei der Vorstellung des Sozialberichts die Anhebung der Erwerbs- und Beschäftigungsquote und damit verbesserte Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Arbeitnehmer, die Ausbalancierung derzeitiger Ungleichheiten bei der Einkommensverteilung, Bildung und Gesundheit, mehr Beteiligung an Wirtschaft, Politik und an der Zivilgesellschaft im Interesse des sozialen Zusammenhalts, Hebung von Quantität und Qualität der Arbeitsplätze, Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sowie Maßnahmen zur adäquaten und raschen Integration Neuhinzugekommener in das wirtschaftliche und soziale Leben. Prof. Rudolf Richter, der Leiter der Europäischen Beobachtungsstelle, hob einzelne Punkte des Sozialberichts besonders hervor: die Formen des Zusammenlebens von Mann und Frau, von Mann, Frau und Kindern hätten sich geändert, die Heiratsrate gehe zurück, die des Zusammenlebens unverheirateter Partner steige, ebenso die Zahl außerehelicher Kinder und die Scheidungsrate. Die Einkommensunterschiede zwischen Mann und Frau machten im EU-Durchschnitt etwa ein Fünftel, in Österreich sogar ein Drittel aus. Tendenziell steige das Einkommen im Alter bei Männern und sinke bei Frauen. Besorgniserregender Alterungsprozess Besorgniserregend fand Univ. Doz. Wolfgang Lutz vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse das Ansteigen des Alterungsprozesses der Bevölkerung. Schon derzeit seien 22 Prozent der EU-Bevölkerung über 60 Jahre alt, die Zahl werde auf etwa ein Drittel steigen, wenn zwischen 2020 und 2030 die Pensionierung der "Baby-Boom-Generation" erfolge. Die nachteiligsten Auswirkungen würden sich auf dem Sektor Sozialleistungen ergeben, auch die wirtschaftliche Produktivität werde als Folge der Überalterung zurückgehen. Einen positiven "Signaleffekt" könnte nach Ansicht von Lutz das demnächst in Österreich zur Einführung gelangende Kindergeld haben. Dr. Walter Bien, Leiter der Abteilung Social Monitoring am Deutschen Jugendinstitut unterstrich die Notwendigkeit des gleichmäßigen Verteilens des Reichtums auf die Geschlechter, damit sich die Menschen "für Kinder entscheiden". Wenn junge Menschen Kinder wollen, müssten sie die Gelegenheit und die Rahmenbedingungen haben, diesen Wunsch zu erfüllen. Die Familienpolitik müsse also so gestaltet werden, dass junge Menschen "Anreize" zum Kinderwunsch erhalten. (APA)