Wien - Hinter dem Bahnhofsschalter zeigt sich in Karl Kraus' Die letzten Tage der Menschheit das fratzenhafte "österreichische Antlitz". Ist dem wienerischen Antlitz (ein Euphemismus für: "Gfrieß") nun überhaupt mit Fotos beizukommen? Ja, wenn ein scharfer ethnologischer Blick auf die Ein- und Ausgeborenen fällt. Eine Ausstellung in der "Galerie Museum auf Abruf" beweist es. Ein Projekt im Rahmen des Nestroy-Jahres versammelte die besten Kamerakünstler(innen) der Stadt zum gemeinsamen Ziel, im Geiste des ersten Dichters der Großstadt, des Silben- und Fratzenstechers Johann Nepomuk, eine Physiologie des wienerischen Biotops zu entwerfen.
Bilder vom Tatort
Vorläufer dazu waren - abgesehen von der Polizeifotografie des 19. Jahrhunderts - die Sozialstudien des großen Emil Meyer zur Jahrhundertwende; und inzwischen lassen sich auch die Aufnahmen Franz Hubmanns aus den Fifties schon zu den Klassikern rechnen: etwa seine einkaufende Frau am Brunnenmarkt, von hinten, wo es bei dieser besonders viel zu sehen gibt. Die jüngere Generation nimmt dabei in den sozial abgestuften Subregionen Wiens vor allem Bilder von Tatorten auf: Die Kleinfamilie in der Leopoldstädter Wohnung (Josef Polleross), die spielenden Mädchen im ebenso gebrochenen wie das Subjekt zerbrechenden Vorstadtlicht der Cora Pongracz; die Porträts Sepp Dreissingers und Willy Puchners. Und das breite Spektrum, das Didi Sattmann entfaltet, so auf unserem Foto hier: Während die vom Goethe-Freund Lavater propagierte Physiologie vor 200 Jahren die Gesichter greifbar machen und die Angst in der Stadt nehmen wollte, sieht Sattmann in der Lobau die Gefahrenzone anderswo: Da streckt sich, aus dem Existenzschlamm der Stadt heraus, der Männerkörper in den blassgrauen Himmel; und die Frau sieht anerkennend zu: Keine Angst, Kleiner! (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26. 7. 2001)