Innerhalb von 24 Stunden scheint sich die von der Regierung beabsichtigte AHS-Aufnahmsprüfung von einer gefährlichen Raupe in einen harmlosen Schmetterling verwandelt zu haben. Kündigte ÖVP-Bildungssprecher Werner Amon am Montag markig ein Instrumentarium aus Tests, Prognoseverfahren und Lehrergutachten an, "das den Zustrom zur AHS stoppen soll", beruhigte Bildungsministerin Elisabeth Gehrer am Dienstag, dass es sich bloß um eine unverbindliche "Orientierungshilfe" für Eltern handle, die bei der Suche nach der besten Schule für ihr Kind unterstützt werden sollen. Genaueres ist fatalerweise zur Zeit nirgendwo zu erfahren. Wenn die Regierung in dieser schulpolitisch fundamentalen Frage die Wissenschaft zu Rate gezogen oder sich am europäischen Ausland orientiert hätte, würde sie folgendes festgestellt haben: Auch in den anderen europäischen Ländern stand im Zentrum der Schulreformen der letzten Jahrzehnte die Frage, wie lange die Schulkarrieren aller Kinder in einer gemeinsamen Schulform verlaufen sollten und ab wann organisatorische Differenzierung in unterschiedliche Schultypen einsetzen sollte. Forschungsergebnisse Die groß angelegten einschlägigen Bildungsforschungsprojekte, die in Schweden in den Fünfzigerjahren und in England und Deutschland in den Sechzigerjahren durchgeführt wurden, erbrachten durchwegs übereinstimmende Ergebnisse: Am Ende der Grundschule lässt sich zukünftiger Schulerfolg ("Maturaeignung") nicht mit der Verlässlichkeit, die von einer so wichtigen Entscheidung wie der AHS-Auslese zu fordern ist, prognostizieren: nicht durch Aufnahmsprüfungen, nicht auf der Basis von Notendurchschnitten und leider auch nicht, wie große deutsche Untersuchungen gezeigt haben, durch Grundschullehrergutachten. Selbst die englische "Eleven plus"-Selektion für die gymnasialen Grammar Schools, seinerzeit Europas aufwändigstes Ausleseverfahren, eine Kombination von Intelligenztests, Schulleistungstests und Grundschullehrergutachten, erwies sich als unbefriedigend. Prognose-Problem Natürlich lassen sich am Ende der Grundschule manche besonders leistungsfähige und manche besonders leistungsschwache Kinder identifizieren, aber für die überwiegende Mehrheit der Kinder ist eine Voraussage des zukünftigen Schulerfolgs, der ja nicht bloß von "Begabung", sondern mindestens ebenso von Faktoren wie Motivation, Interessen, elterlichen Ambitionen, etc. mit beeinflusst wird, im Alter von 10 oder 11 Jahren schlicht und einfach nicht möglich. (Was der ominöse Schulversuch in Wolkersdorf gegenüber diesem riesigen internationalen Fundus an Forschung erbringen soll bzw. kann, ist schwer vorzustellen.) Als demokratiepolitisch besonders gravierend erwies sich folgender, vielfach bestätigter Forschungsbefund: Je früher schulische Auslese erfolgt, desto stärker ist sie sozial verzerrt, das heißt, desto stärker werden Mittel- und Oberschichtkinder begünstigt und Unterschichtkinder und solche aus nicht die Landessprache sprechenden Elternhäusern benachteiligt. In den meisten Staaten Europas zog man daraus die schulorganisatorische Konsequenz der integrierten Gesamtschule bis zum Ende der Sekundarstufe I bzw. bis zum Ende der Schulpflicht. "Aufwertung" der Hauptschule hat keine Chance Es ist eines der größten Handicaps der österreichischen Bildungspolitik, dass sich die ÖVP einer rationalen Auseinandersetzung über eine Gesamtschulreform der Schule der 10- bis 14-Jährigen entzieht. Angesichts des Prestiges des Gymnasiums und der mit seinem Besuch verbundenen Aufstiegs-Berechtigungen hat der Versuch der "Aufwertung" der Hauptschule bei einer immer konsumeristischer und qualitätsbewusster werdenen Elternschaft keine Chance. (Ich würde Herrn Amon gerne dabei beobachten, wie er einer Elternversammlung einer vierten Volksschulklasse im Wiener "Nobelbezirk" Hietzing, wo 80 Prozent der Kinder in die AHS übertreten, erklärt, dass ihre Kinder lieber in die Hauptschule gehen sollten.) Wie ein viel beachtete OECD-Studie zeigte, wählen Eltern, wenn sie die Chance haben, überall die "angesehenere" Schulform. Das ist keine Geringschätzung der Hauptschulen und der guten Arbeit, die dort geleistet wird, sondern das verständliche Bestreben der Eltern, die subjektiven Bildungschancen ihrer Kinder zu optimieren. Auf welchen Prozentsatz will die Regierung den Besuch der AHS-Unterstufe reduzieren, der im Bundesdurchschnitt zur Zeit bei etwa 30 Prozent, in Wien und anderen großen Städten allerdings bei über 50 Prozent liegt? Auf 25 Prozent? Auf 20 Prozent? Nur zum Vergleich: In Schweden und Japan besuchen etwa 95 Prozent der 18-Jährigen Vollzeitschulen bis zum Ende der Sekundaroberstufe, in Frankreich sind es mehr als zwei Drittel. In den meisten westlichen "Bildungsgesellschaften" wird eine Erhöhung der Bildungsbeteiligung in weiterführenden Schulen angestrebt. Die vierte Volksschulklasse wird angesichts der gegenwärtigen Debatte für die Lehrerschaft sehr viel konfliktträchtiger und für die Kinder viel affektgeladener und traumatischer werden. Schwacher Trost Den Eltern bleibt der schwache Trost, dass sie das neue Kindergeld, auf das die Regierung so stolz ist, für zusätzliche Nachhilfestunden und Psychotherapie ihrer verängstigten Sprösslinge verwenden können. Wenn die Regierung von der Richtigkeit ihrer schwarzblauen Pädagogik überzeugt ist, dann sollte sie die Courage haben, die AHS-Aufnahmsprüfung vor der Einführung einer sogenannten "thematischen Länderprüfung" durch ein internationales Expertenteam der OECD unterziehen zu lassen, wie dies vor der Etablierung der Fachhochschulen der Fall war. Dann werden wir ja sehen.... (DER STANDARD Print-Ausgabe, 26.7.2001)