Es ist ein heißer, windstiller Abend in der kanadischen Prärie, der Saskatchewan fließt unbeeindruckt von den rituellen Tänzen der Menschen in den bunten Leiberln und kurzen Hosen vor sich hin, das Gras lässt sich vom Wind schmusen. Acht Frauen kauern sich auf das gebellte Kommando eines Mannes hin, der Kerl schießt in die Luft, und die Damen schurln los. 10,82 Sekunden später küsst die Amerikanerin Marion Jones die kanadische Sommerluft, sie hat gegen Schanna Pintusewitsch-Block die 100 m verloren, schon im Semi riss Jones' Siegesserie nach 55 Rennen, seit September 1997, als Merlene Ottey sie besiegte. Bei der WM wenige Wochen vorher gewann Jones die 100 m mit zwei Hundertsteln vor Pintusewitsch-Block, es war Jones' erster großer Titel. Die Ukrainerin dachte, sie habe gewonnen, frohlockte und begab sich sogar auf die Ehrenrunde, ehe sie ihren Irrtum erkannte. Pintusewitsch hielt sich mit dem Sieg über 200 m schadlos, aber was ist das gegen die 100 m, die Königsdisziplin, die magische Prüfung in Reaktionsvermögen, Wachheit, Schnelligkeit und Mut? So was vergisst man nicht so leicht, weshalb sie im Commonwealth Stadium nicht gleich frohlockte, sondern sich erst vergewisserte, ob sie wirklich gewonnen hat. Von der WM in Sevilla kam sie mit leeren Händen heim: Vierte über 100 m, im 200-m-Viertelfinale ausgeschieden. Bei den Olympischen Spielen von Sydney hatte sie sich eine Medaille ausgerechnet, sie wurde über 100 m Fünfte, über 200 m Achte. Pintusewitsch-Block heißt die 29-Jährige seit 1999. Da hat sie Herrn Mark Block geheiratet, ihren Trainer und Manager. Als Schanna Tarnapolskaja feierte sie erste Erfolge, vor Block traf sie Herrn Pintusewitsch. Block trainiert das 1,64 m große Kraftbinkel im Provinzstädtchen Johnson City in Tennessee, speziell den Start und die Beschleunigung. Das Schnellkrafttraining der Sprinter sieht man ihr stärker an als der grazileren Jones. Der Start brachte sie in Front, in der Aufrichtphase hielt sie den Vorsprung, und Jones konnte sie nie mehr stellen. "Mich verfolgte ein Trauma, seit ich 1997 in Athen den WM-Titel gegen die damals junge Marion Jones um zwei Hundertstelsekunden verpasst hatte. Aber nun habe ich das erste 100-m-Gold für die Ukraine gewonnen, seitdem Waleri Borsow in meinem Geburtsjahr 1972 in München Olympiasieger geworden war", erzählte sie. "Die 200 m sind nicht dasselbe, die 100 m sind die wahre Geschichte." Nun ist Pintusewitsch die erste weiße 100-m-Weltmeisterin seit Katrin Krabbes Sieg 1991 in Tokio. In Sydney holte sich der Grieche Konstantin Kenteris die 200 m. Der Saskatchewan plätschert so dahin, das Gras singt Neil Young: "Long May You Run." Die US-Sprinter haben kein Abo mehr auf Titel. (Johann Skocek/DER STANDARD, Printausgabe, 8.8.2001)