Eigentlich bin ich auch ein Wiener", sagte ein aus Bagdad eingewanderter Arzt in Jerusalem zur Österreicherin Barbara Taufar. Sein Urgroßvater habe Rosenfeld geheißen, sich im Orient dann aber, nach dem Beruf des Uhrmachers, Saatçi genannt. "Wie Saatchi & Saatchi, die Londoner Werbeleute und Kunstsammler?", fragte Taufar. "Das sind meine Cousins", gab der Doktor aus Bagdad zurück. Diese Begebenheit weckte den Reporterinstinkt der früheren Journalistin Taufar so stark, dass sie fünf Jahre darauf verwendete, die Lebensgeschichte des jüdischen Wiener Schneiders Nathan Rosenfeld zu recherchieren, den es im 19. Jahrhundert nach Mesopotamien verschlagen hatte. Ihr Roman beginnt im Revolutionsjahr 1848 in dem Augenblick, als in Wien Kriegsminister Latour an einer Laterne aufgeknüpft wird. Nathan und sein Freund Israel beobachten den Tumult, flüchten aber, als sie der Geheimpolizei auffallen. Wie viele Arme unter den 4000 Juden der Stadt wohnen sie bei einer der nur 197 von den Behörden offiziell tolerierten jüdischen Familien. Der Tuchhändler Moses Lehmann hat seiner Verwandtschaft, darunter Nathan und dessen Onkel, dem religiösen Eiferer Aaron, in seinem Haus in der Leopoldstadt Unterschlupf gewährt. Während rundum der Aufstand zusammenbricht, kommt es im Hause des Tuchhändlers zu einer Revolution eigener Art: Moses Lehmann verlangt, dass sich seine von Nathan geliebte Tochter Hanna taufen lässt und einen verarmten Grafen heiratet, damit er auf diesem Weg dem Gettodasein entkommen kann. Während der in seinen Augen frevlerischen Verlobungsfeier legt jedoch Aaron, der Eiferer, ein Feuer, dem ein Großteil der Familie Leh-mann zum Opfer fällt. Nathan, dem in Wien nun die Lebensgrundlage entzogen ist, bleibt nichts übrig, als einen von Lehmann entwickelten Plan zu seiner Abschiebung aus dem Gesichtsfeld Hannas in die Tat umzusetzen: die Auswanderung nach Bagdad. Neben Israel schließt sich noch ein Gefährte an: der Uhrmacher Isaak, der, von Karl Marx beeindruckt, den Glaubensbrüdern im Orient die Aufklärung bringen will. Barbara Taufar schildert diese Story prall und detailreich. Mit der Thematik liegt sie - wenn man etwa an Robert Menasses neuesten Roman Die Vertreibung aus der Hölle denkt - ganz im Trend. Schreiberisch erinnert ihr Buch aber eher an die Romane des in Wien geborenen US-Autors Frederic Morton (Die Rothschilds, Die Ewigkeitsgasse), der Geschichte in Geschichten erzählt. Im zweiten Teil des Uhrmachers entwirft Taufar ein Panorama des jüdischen Lebens am Tigris, das dort seit biblischen Zeiten ("babylonische Gefangenschaft") stillzustehen scheint. Eingefügt in die islamische Umwelt leben Händler und Handwerker ihren von jüdischen Fast- und Festtagen geprägten Alltag. Ein Jahr sind die drei Wiener Juden unterwegs, bis sie Bagdad erreichen. Verständigung mittels Schulhebräisch ist zunächst nur mit den Männern möglich; die tief verschleierten Frauen der Misrachim, der orientalischen Juden, sprechen Arabisch. Ihre Existenz dreht sich um Haus und Familie. Liebestränke und -gifte sind ihre vor den Männern gehütete Geheimnisse. Isaak, der Uhrmacher, macht sich daran, in Bagdad die Zeit zu beschleunigen. Er korrespondiert mit einem philanthropischen Verein in Paris, der den Aufbau westlich orientierter Schulen fördert. 1864 ist es so weit: Die Schule der "Alliance Israélite" wird, mit einem Briten als Direktor, in Bagdad eröffnet. Nathan Rosenfeld fühlt sich unter den orientalischen Juden fremd. Eine Ehe mit einem Waisenmädchen bleibt viele Jahre kinderlos. Seine verzweifelte Frau gibt ihm eine giftige Arznei - und tatsächlich wird ihnen ein Sohn, David, geboren. Dieser nimmt später, nach der Berufsbezeichnung des Uhrmachers Isaak, der ihm ein väterlicher Freund wird, den Namen Saatçi an. Denn Nathan, dem es immer schlechter geht, kehrt nach Österreich zurück. In Wien macht er sich auf die Suche nach seiner Jugendliebe Hanna, der inzwischen verwitweten Gräfin. Er findet sie auch noch, ehe er stirbt und auf dem jüdischen Friedhof in Währing begraben wird. (Von Erhard Stackl - DER STANDARD, Album, 18.8.2001)