"Der Bus kann warten", grummelt der alte Mann im Palast von Mandava. Dann lässt er noch Anissamen und Kandiszucker zum stark gesüßten Tee kommen. So viel Zeit muss eben sein, wenn sich Fremde auf der Durchreise bis in seinen Salon verirren. Glatt polierte Alabasterwände und zarte Gitterfenster zerstäuben dort das schräge Abendlicht. Einige grüne Papageien dösen im dämmrigen Käfig unterm Plafond. Selbst der Springbrunnen im Innenhof des Palastes hält nun ein kleines Nickerchen. Von frischem Rosenwasser und duftenden Blütenblättern gibt's dort seit vielen Jahren keine Spur.

Bloß der feiste Hausherr wälzt sich aufgeregt vom glattgewetzten Sitzpolster zum Silberschrank hinüber. Kramt schließlich abgegriffene Schwarz-Weiß-Fotos von führenden indischen Industriellen hervor. Und dazu Namen, die am indischen Subkontinent jedes Kind von klein auf kennt. Aus der verschlafenen Region Shekavati stammen nämlich die kapitalsten Vorzeigekapitalisten Indiens. "Hier wohnten früher die Hochfinanz-Birlas, schräg gegenüber die Motorroller-Bajajas", erinnert sich der alte Mann an die abgewanderten Magnaten, mit denen sein Vater noch reiten ging. Und blickt dazu ein wenig selbstgefällig aufs Tauben/Hunde/Ziegen/Fahrrad-Gewimmel seiner Gasse hinaus.

Dezent entrollt sich zunächst das Wunder Shekavati, auch im zentralen Örtchen Mandava: Ein Fort, dazu Basare, der übliche staubige Busbahnhof (wo der Chauffeur tatsächlich geduldig auf den säumigen Passagier wartet), Kamele vor zweirädrigen Karren und Fliegenschwärme im Gegenlicht; ferner zum Trocknen aufgestapelte bauchige Tonkrüge, flache dampfende Kochkessel mit Kichererbsen, Okra, Kartoffeln, und davor frische Kuhfladen - nichts unterscheidet Mandava und die meisten der Shekavati-Örtchen auf Anhieb von anderen Kleinstädten Rajasthans.

Erst die aufwendig bemalten Hawelis, festungsartige Stadtpalais mit bis zu fünfzig Zimmern, deuten auf den Reichtum der Gegend hin. Sie erinnern an die Tage, als die letzten großen Karawanen von Delhi über Bikaner nach Persien zogen und die Händlerkaste in Städtchen wie Mandava noch fetten Profit einstrich. Goldfarben und braunrosa leuchten diese Gemäuer jetzt in der späten Abendsonne. Wilde Pfauen schlagen auf den Balkons und Erkern der alten Herrenhäuser bunte Räder. In die Mauerritzen krallt sich sprödes Distelwerk. Oft halten nur mehr alternde Haushüter in den verwaisten, vom Flugsand der Winterwinde angewehten Häusern die Stellung.

Dass viele der prachtvollen Hawelis veröden, ist Teil einer Erfolgsstory, die mit dem Handel zwischen China, Persien und Europa beginnt. Über Jahrhunderte liefen Seide, Tee und Porzellan auf dem Wege nach Westen, und Opium und Waffen Richtung China über die Region Shekavati. Just als die alten Handelsrouten verebbten, besaßen die hier reich gewordenen Familien das nötige Kapital und wohl auch den unternehmerischen Mut fürs Big Business der damals beginnenden Industrialisierung des 1946 unabhängig gewordenen Indien. Der Shekavati-Clan bildete so die kapitalistische Avantgarde des Landes, und als die Söhne und Töchter der Birlas, Bajajas, Dalmias später in Übersee studierten und die Magnaten längst in Bombay und anderen Städten saßen, da versank auch das Familienerbe in eine Art Dornröschenschlaf.

Lediglich das trockene Klima und die Zurückgebliebenen halfen seit den Fünfzigern, die alten Statussymbole der Vorfahren zu konservieren. Allen voran die reichhaltigen Fresken, die die Familien der Shekavati-Händlerkaste zur Jahrhundertwende in Auftrag gegeben hatten. Jeden Quadratmeter ihrer Palais ließen sie damals mit Freskenzyklen bemalen. Schöner, bunter und feiner als das Nachbar-Haweli hatte die eigene Villa zu sein. Shekavati mauserte sich so weltweit zur Gegend mit der höchsten Dichte an künstlerisch hochwertigen Fresken. Miniaturen mit traditionellen und mitunter auch modernen Motiven übersäen nun die Städtchen Mandava, Jhunjhunu, Nawalgarh, Dundlod und Fatehpur. Farbenprächtige Bilder von Maharajas, die mit Luxuslimousinen spazieren fahren, und von Maharanis, wie sie hinter frühmodernen Pfaff-Nähmaschinen gekünstelt ihre dünnen Finger spreizen, erzählen so auch vom Beginn der industriellen Ära. In langen Zierbändern rasen gemalte Eisenbahngarnituren von einer Zimmerecke in die nächste, während die blonden europäischen Memsahibs am Plafond mit Sonnenschirmchen durch die Wüste defilieren. Späterhin überzog diese Bilderflut auch öffentliche Gebäude: Mandawas Apotheke, Fatehpurs State Bank of India oder Juhnjhunus Mädchencollege glichen sich den Graffiti-Palästen an.

Doch allein schon die historische Bausubstanz dieser alten Karawanenstädte ist beeindruckend, auch ohne bunte Fresken. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden mächtige Stadttore und Mauern, darunter Mandavas malerisches Fort, der Palast von Dundlod samt seiner alten Bibliothek im orange getönten Audienzsaal Diwan-I-Khas, oder so aufwendige Treppenbrunnen (Baolis) wie der 32 Meter tiefe Mertani-Baoli von Jhunjhunu: Selbst der lokale Rikschafahrer muss lange danach suchen und sich das letzte Stück des Weges mit seinen paillettenbestickten Pantoffeln durch Schutthalden bahnen. Der Besuch zwischen den Trümmern der abgewrackten Stadtmauern und ruinenartigen Häuserreste lohnt zuletzt dennoch: Wie ein verkehrtherum in den Boden gebauter Wasserpalast führen die Torbögen und 152 Stufen des Brunnens immer tiefer ins Erdreich hinab - und münden zuletzt in ein moosiges Becken ein. Taubenfedern schweben über der stillen Wasserfläche, ein Streifenhörnchen blinzelt zur Sonne hinauf.

Auf den kleinen, von zahllosen Schlaglöchern perforierten Nebenstraßen, die die Ortschaften dieser Region mit der rund 200 Kilometer weiter südlich gelegenen Hauptstadt Jaipur verbinden, dominieren aber auch die stillen Bilder des ländlichen Rajasthan. Hohe Erdwälle umrahmen die Felder. Kamele liegen und knien wiederkäuend unter kleinblättrigen Neem-Bäumen und zwischen hohen Büffelgrasbüscheln. Offen liegen die mittelalterlichen Werkstätten von Töpfern und Stofffärbern in der glühenden Mittagssonne. Auf den vereinzelten Gipfeln der entfernten Hügelketten thronen Forts, deren Namen lediglich dem Lokaladel und den ansässigen Bauern geläufig sind: Dantaramgarh, Kuchangarh, Songarh. Touristische Abenteuerspielplätze ohne jeden Lageplan. Bewohnt sind nur die wenigsten dieser vergessenen Festungen, doch ein Schlüssel für die eisenbeschlagenen Zufahrtstore mit ihren stacheligen Elefantensperren findet sich nach längerem Herumfragen in jedem Ort.

Die gesamte Region gilt als Geheimtipp für den Antiquitätenhandel Indiens, verrät ein Wächter. Das Gros der herausgerissenen Türen und Fensterläden, der silberbeschlagenen Truhen und antiken Opiumpfeifen taucht wenig später in den Shops der touristischen Hochburgen Jaipur, Jodhpu, Udaipur wieder auf. Wenigstens die massiven Mauern, landschaftlichen Schönheiten und atemberaubenden Trachten konnte die Antikmafia nicht verschleppen: Hellgelbe Sanddünen und das frische Grün der schilfartigen Stauden rahmen weiterhin das rurale Shekavati.