Literatur
New Yorker Oberflächen
... in Ilse Aichingers "Journal des Verschwindens" (XLVII)
Nein, an Umfragen von News
würde ich nicht teilnehmen. Ich kann auch
nicht auf Anhieb die Lage von New York und andere globale Probleme benennen, es
käme mir anmaßend vor. Die Oberflächen sind wichtig, nicht das
Vorgeben von Bescheidwissen und Betroffenheit. So kaufte ich mir einen
Reiseführer New York.
Der eben erschienene
Merian
-Band über New York bietet gleich auf dem
Titelblatt "Reisen mit Erlebnis-Garantie." Da in New York noch weniger als
anderswo die Gefahr besteht, sich zu Tode zu langweilen, kann man diesem Angebot
(und nicht erst nach dem 11. September) fast ohne Einschränkung trauen.
Gleich zu Beginn droht der
Merian
-Text in uneingeschränkte
Begeisterung zu kippen: "Die heulenden Krankenwagen, die trompetenhaften
Feuerwehren, selbstsicherer Luxus" wird Manhattan zugeschrieben. Einige
Ratschläge: "Wirken Sie nicht schon von weitem ortskundig, meiden Sie
nachts den Central Park und die Subway. Beliebte Gegenden sind sicherer",
heißt es. Wie beliebt ist seit dem 11. 9. die Südspitze Manhattans?
Der erste Wolkenkratzer entstand 1913 (Woolworth Building). Drei Jahre später
erließ die Stadtverwaltung die erste Bauordnung Amerikas. Während der
30er-Jahre, bemerkt der Reiseführer erbittert, schleppten europäische
Immigranten "den Virus des internationalen Stils" ein, es kam zu
"Klötzen" und "Zigarrenkisten". Doch wagemutige
Architekten rissen rasch wieder ab, was ihnen missfiel.
Der Reiseführer: "Es kann Ihnen ohne weiteres passieren, dass Sie Ihre
Hose von der Reinigung holen wollen, aber dann nicht nur das Geschäft
verschwunden ist, sondern das ganze Haus."
Die Hotels: Das
Hotel Algonquin
- "Lieblingshotel der literarischen
Nostalgiker" -, das
Essex House.
Im
Carlyle
stieg John F. Kennedy
ab, im
Mayflower
residieren Künstler. Wer seinen Freunden aber
erzählen will, er hätte im Atlantik gebadet, geht erst einmal rasch nach
Coney Island. Und wer Lust auf Kirchen hat, entdeckt unter den Heiligen an der
Rückwand der neugotischen Thomas-Kirche George Washington.
Die Gesichtszüge der Freiheitsstatue (Miss Liberty) modellierte der Bildhauer
Frédéric Auguste Bartholdi nach seiner Mutter. In den
Towers
Boonde
, denen am 11. September nichts geschah, gibt es nicht nur die Juilliard
School, sondern auch New Yorks größtes Schallplattengeschäft.
Obwohl es auch St. John the Divine nicht gelungen ist, die September-Katastrophe zu
verhindern, ist ihm die größte - noch unfertige - gotische Kirche der Welt
gewidmet. 1892 wurde der Bau begonnen, Querschiff und Türme fehlen noch.
Die Gottesdienste sind im Prinzip protestantisch, trotzdem wechseln dort
buddhistische Begräbnisse mit Erntedankfesten und jüdischen
Hochzeiten ab.
In der Radio City Music Hall liegt das größte Kino der Welt (5882
Plätze), zu Weihnachten treten Weihnachtsmann, Christkind und bekannte
Tanzgruppen gleichzeitig auf. Mit dem Verschwinden der Passagierdampfer verfielen
die meisten Piers. Und auch die Zwillingstürme des World Trade Centers
werden im
Merian -
noch ahnungslos - erwähnt: Das Dachrestaurant in
Turm Nr. 1 solle man "in Jeans, Shorts oder Turnschuhen nicht betreten".
Dann wählt man gleich lieber die Kreuzgänge von fünf
französischen Klöstern, die am Nordende von Manhattan zu einem
einzigen verschmolzen wurden. Und außer den berühmten Museen sollte
man ein abseitigeres nicht vergessen, das "Museum of the American
Indians" (Waffen, Totempfähle, Hausgeräte, Masken) an der
Südspitze Manhattans - es hätte aber leicht der Terroraktion vom letzten
Dienstag zum Opfer fallen können.
Das hätte den gestrigen Besuch des nun über dreißig Jahre alten
Films
Winnetou und Old Shatterhand
im Imperialkino - mit Lex Barker und
Pierre Brice - dann doch etwas dringlicher gemacht, als er war. Aber auch diesem Film
gelang es, sehr frühe Freuden zurückzurufen: In meinem einzigen
"Stammbuch" (Album für Inschriften von Großeltern, Kusinen
oder Schulfreundinnen) stand auf der letzten Seite, geschrieben von, wie mir eben
einfällt, der Mitschülerin Gerti Lehner: "Mein lieber Bruder Shosh in
Liet (Schlangentöter) möge Winnetou den Häuptling der Apachen
nicht vergessen."
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21. 9. 2001)