Nein, an Umfragen von News würde ich nicht teilnehmen. Ich kann auch nicht auf Anhieb die Lage von New York und andere globale Probleme benennen, es käme mir anmaßend vor. Die Oberflächen sind wichtig, nicht das Vorgeben von Bescheidwissen und Betroffenheit. So kaufte ich mir einen Reiseführer New York. Der eben erschienene Merian -Band über New York bietet gleich auf dem Titelblatt "Reisen mit Erlebnis-Garantie." Da in New York noch weniger als anderswo die Gefahr besteht, sich zu Tode zu langweilen, kann man diesem Angebot (und nicht erst nach dem 11. September) fast ohne Einschränkung trauen. Gleich zu Beginn droht der Merian -Text in uneingeschränkte Begeisterung zu kippen: "Die heulenden Krankenwagen, die trompetenhaften Feuerwehren, selbstsicherer Luxus" wird Manhattan zugeschrieben. Einige Ratschläge: "Wirken Sie nicht schon von weitem ortskundig, meiden Sie nachts den Central Park und die Subway. Beliebte Gegenden sind sicherer", heißt es. Wie beliebt ist seit dem 11. 9. die Südspitze Manhattans? Der erste Wolkenkratzer entstand 1913 (Woolworth Building). Drei Jahre später erließ die Stadtverwaltung die erste Bauordnung Amerikas. Während der 30er-Jahre, bemerkt der Reiseführer erbittert, schleppten europäische Immigranten "den Virus des internationalen Stils" ein, es kam zu "Klötzen" und "Zigarrenkisten". Doch wagemutige Architekten rissen rasch wieder ab, was ihnen missfiel. Der Reiseführer: "Es kann Ihnen ohne weiteres passieren, dass Sie Ihre Hose von der Reinigung holen wollen, aber dann nicht nur das Geschäft verschwunden ist, sondern das ganze Haus." Die Hotels: Das Hotel Algonquin - "Lieblingshotel der literarischen Nostalgiker" -, das Essex House. Im Carlyle stieg John F. Kennedy ab, im Mayflower residieren Künstler. Wer seinen Freunden aber erzählen will, er hätte im Atlantik gebadet, geht erst einmal rasch nach Coney Island. Und wer Lust auf Kirchen hat, entdeckt unter den Heiligen an der Rückwand der neugotischen Thomas-Kirche George Washington. Die Gesichtszüge der Freiheitsstatue (Miss Liberty) modellierte der Bildhauer Frédéric Auguste Bartholdi nach seiner Mutter. In den Towers Boonde , denen am 11. September nichts geschah, gibt es nicht nur die Juilliard School, sondern auch New Yorks größtes Schallplattengeschäft. Obwohl es auch St. John the Divine nicht gelungen ist, die September-Katastrophe zu verhindern, ist ihm die größte - noch unfertige - gotische Kirche der Welt gewidmet. 1892 wurde der Bau begonnen, Querschiff und Türme fehlen noch. Die Gottesdienste sind im Prinzip protestantisch, trotzdem wechseln dort buddhistische Begräbnisse mit Erntedankfesten und jüdischen Hochzeiten ab. In der Radio City Music Hall liegt das größte Kino der Welt (5882 Plätze), zu Weihnachten treten Weihnachtsmann, Christkind und bekannte Tanzgruppen gleichzeitig auf. Mit dem Verschwinden der Passagierdampfer verfielen die meisten Piers. Und auch die Zwillingstürme des World Trade Centers werden im Merian - noch ahnungslos - erwähnt: Das Dachrestaurant in Turm Nr. 1 solle man "in Jeans, Shorts oder Turnschuhen nicht betreten". Dann wählt man gleich lieber die Kreuzgänge von fünf französischen Klöstern, die am Nordende von Manhattan zu einem einzigen verschmolzen wurden. Und außer den berühmten Museen sollte man ein abseitigeres nicht vergessen, das "Museum of the American Indians" (Waffen, Totempfähle, Hausgeräte, Masken) an der Südspitze Manhattans - es hätte aber leicht der Terroraktion vom letzten Dienstag zum Opfer fallen können. Das hätte den gestrigen Besuch des nun über dreißig Jahre alten Films Winnetou und Old Shatterhand im Imperialkino - mit Lex Barker und Pierre Brice - dann doch etwas dringlicher gemacht, als er war. Aber auch diesem Film gelang es, sehr frühe Freuden zurückzurufen: In meinem einzigen "Stammbuch" (Album für Inschriften von Großeltern, Kusinen oder Schulfreundinnen) stand auf der letzten Seite, geschrieben von, wie mir eben einfällt, der Mitschülerin Gerti Lehner: "Mein lieber Bruder Shosh in Liet (Schlangentöter) möge Winnetou den Häuptling der Apachen nicht vergessen." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21. 9. 2001)