Wie viele Leben passen in einen einzigen Menschen? Und wie viel von einem Menschen in einen Roman? Wie kann man sich einen Russen vorstellen, der 1886 als Sohn einer Zuckerdynastie in Kiew geboren wurde, in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts ein Dandy und Spieler, Mäzen, Verleger (der ersten Werke Nabokovs!) und Dichterfreund (Alexander Bloks!) sowie Direktor des Petersburger Hofballetts und Rosenkreuzer war - dann Drahtzieher eines Putsches gegen das Zarenhaus, mit 29 Jahren Finanz- und später Außenminister der ersten bürgerlichen Regierung Russlands und - es geht noch weiter! - nach seiner Emigration 1917 erfolgreicher Finanzberater, dessen Tod die Londoner Times im Jahre 1958 als "großen Verlust für die europäische Finanzwelt" bezeichnete? Michail Iwanowitsch Tereschtschenko, kurz I.M., war zweifellos eine schillernde Persönlichkeit. Und eine geheimnisvolle. Denn wesentlich mehr als obige Eckdaten weiß man nicht über ihn. Aber auch Alexander Pjatigorskij - Jahrgang 1929, philosophischer Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und der Universität Moskau, nach seiner Emigration 1974 Dozent und später Professor für alte indische Geschichte an der Universität London, Verfasser von Aufsätzen zu Semiotik, Philosophie, Literatur und indischer Mythologie - ist nicht gerade das, was man eine eindimensionale Persönlichkeit nennen kann. In ihm hat I.M. einen kongenialen, aber skeptischen Biografen gefunden. Überzeugt von der Unmöglichkeit, "nicht alle Zeiten auf die eigene und alle Namen auf den eigenen zu beziehen", begibt er sich in Erinnerung an einen fremden Mann auf eine jahrzehntelange Suche durch halb Europa nach den Spuren dieses Vertreters der verbotenen Vorzeit der Sowjetunion. Er spricht mit Verwandten und Bekannten, aber mehr als die historische Wahrheit interessiert ihn das Bewusstsein, die Ideen der Menschen jener Zeit. Und so sind die eigentlichen Protagonisten dieser Chronik einer Recherche nach einem Politiker unter Aussparung des Politischen, einem Finanzexperten unter Aussparung der Wirtschaftsgeschichte, die der selbstironische und -kritische Erzähler hartnäckig Roman nennt, die Gegensatzpaare der Moderne, die "Mythen des 20. Jahrhunderts": Verrat und Schuld, Zeit (Referenzobjekt Proust!) und Gedächtnis, Akteure und Beobachter, Doppelgänger und Rituale, Wahrheit und Lüge, Ohnmacht und Freiheit. Für Unkundige der russischen Geschichte und Moskauer Topografie erweist sich dieser weit greifende, abstrakte Ansatz als Handicap, denn hier wird viel vorausgesetzt und wenig erzählt. Nicht die Lebensgeschichte Tereschtschenkos und nicht viel über seine politische Tätigkeit in der vielleicht spannendsten Epoche des Großreichs, den Zehnerjahren: Hoch-Zeit für freie Geister, vor allem in den Monaten nach der Februarrevolution 1917, die unblutig auf der Straße vonstatten ging und eine Regierung der besitzenden Elite hervorbrachte, deren Versuch, im rückständigen Russland ein liberales Staatswesen aufzubauen, kläglich scheiterte (in Orlando Figes' Studie Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924 anschaulich beschrieben). Für das mangelnde Interesse an den Fakten wird der Leser allerdings mit Reflexionen auf höchstem Niveau entschädigt, die sich in dem Leerraum zwischen Realpolitik und Metaphysik einnisten. "Pjatigorskijs Roman wirf alle Fragen auf, die wir uns heute in Bezug auf das alte und das neue Russland stellen müssen", heißt es in der Begründung zur Verleihung des renommierten Andrej-Belyi-Preises im Jahre 2000. Wie Pjatigorskijs Philosophie einer Gasse (dt. 1997), die in Moskau in kürzester Zeit zum Kultbuch aufstieg, ist die Erinnerung an einen fremden Mann eine Aufzeichnung von philosophischen Gesprächen mehrerer Generationen über das 20. Jahrhundert aus russischer Sicht. Ein Romantraktat, das der Doppel- und Mehrdeutigkeit des Lebens im Dialog gerecht zu werden und standzuhalten versucht. (Von Kirstin Breitenfellner - DER STANDARD, Album, Sa./So. 10./11.11.2001)