Literatur
Vom Schein zum Vorschein
Wendelin Schmidt-Dengler über Johann Nestroy: Eine elegante Anmerkung
Angenehmerweise schreibt Wendelin Schmidt-Dengler, Germanistik-Professor an der
Universität Wien, über Literatur so, dass es auch Leser verstehen, die kein
einschlägiges Studium hinter sich gebracht haben. Das wirkt nicht nur bei Werken
anregend, die dem Interessierten nicht immer bis in die feinsten Verästelungen
geläufig sind, es funktioniert bei solchen, die einem als besondere Schmuckstücke
einer im Lauf des Leselebens entstandenen Lektüreliste im Gedächtnis haften
geblieben sind, sogar noch besser.
Gerade Johann Nestroy ist einer der Autoren, die beinahe jedem, der sich einmal
intensiver mit seinem Werk auseinandergesetzt hat, eine Anmerkung abnötigen - und
sei es lediglich die, dass ihm Nestroy in seiner Schulzeit herzlich verleidet wurde. Er
darf also aufgrund seiner Popularität ebenso sehr als "riskanter" Autor für den
Rezensenten gelten wie aufgrund der problematischen Kanonisierung als
Mitbegründer des "typisch Österreichischen" in der Literatur, die ihm die
Literaturgeschichte spätestens seit der Wiedergutmachung angedeihen ließ, welche
Karl Kraus an dem bis dahin in die Schublade scherzhafter Unseriosität Verräumten
vorgenommen hatte.
In seinem 175 Seiten umfassenden Buch "Nestroy - Die Launen des Glückes" gibt
Schmidt-Dengler nicht nur unaufdringlich über die Launen Auskunft, denen der Dichter
seit seinem ersten Erscheinen auf der Szene durch die Fachleute der Theater- und
Literaturwissenschaft ausgesetzt war. Er nimmt sich besonders kenntnisreich jener
Theaterstücke an, die eben nicht den später gewachsenen Ruhm Nestroys begründet
haben, sondern die, am Anfang seines Schaffens verfasst, zwar schon einiges vom
technischen Schliff der späteren Stücke aufweisen, zugleich aber deutlich verspielter
die Grenzen des Genres ausloten und, für heutige Leser leichter erkennbar als für
Nestroys Zeitgenossen, nicht nur formal eine unvorstellbare Überschreitung wagen.
Oder, um mit Schmidt-Dengler zu sprechen: "Die überlieferten Rezensionen der
Aufführung sind allgemein positiv, nur von einer wird das Stück als unsäglich trivial
und symptomatisch für den elenden Zustand der Schaubühne bezeichnet. Ist man
hingegen durch die Schule des absurden Theaters gegangen, hat man Karl Valentins
Dialoge im Ohr, so wird man diese eklatante Banalität der Dialoge und Reden anders
beurteilen. Das ist kein Vorgriff auf das absurde Theater oder auf die dramatischen
Versuche der Avantgarde wie bei Konrad Bayer oder H.C.Artmann, sondern das ist
absurdes Theater, das ist Avantgarde."
Wie sehr Nestroy zu den Modernen zu zählen ist, wie ausführlich seine Adepten und
die nachgeborenen Bühnenautoren aus der Quelle geschöpft haben, die er
angeschlagen hat, führt Schmidt-Dengler auch dem prägnant vor Augen, der die
Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts eher als Aneinanderreihung von Irrtümern,
aufbauend auf den falschen Schlüssen der Romantik missversteht und in Nestroys
Epoche - auch mit Verweis auf eben diesen Autor - den letzten erfolgreichen Versuch
der Befestigung eines von den Weltenläufen unangreifbaren Lebensentwurfes zu
sehen versucht. Was heißt hier schon Biedermeier.
( Von Samo Kobenter -
DER STANDARD, Album, Sa./So., 1./2.12.2001)