Nie hätte Hilary Jones sich gedacht, dass sie sich eines Tages mit Diamanten befassen würde. Sie war Staatsbeamtin in Yellowknife, der kleinen, öden Hauptstadt der kanadischen Northwest Territories. In diesem wenig besiedelten Gebiet nördlich des 60. Breitengrades, das fast dreimal so groß wie Deutschland ist, wurden 1991 zum Erstaunen der ganzen Welt Diamanten entdeckt. Heute ist Hilary Jones Direktorin der Diamantschleiferei Arslanian Cutting Works (NWT) in Yellowknife. Während sie in ihrem Atelier glitzernde Steine, die ein Vermögen wert sind, zwischen ihre Finger setzt, sagt sie stolz: "Diese Diamanten besitzen die Romantik der Arktis mit ihrer eisblauen Kälte und den Nordlichtern."In Yellowknife, weit oben in Kanadas subarktischem Norden, sind Diamanten das alles beherrschende Thema. Von hier aus gehen täglich Flüge 300 Kilometer in nordöstlicher Richtung, mitten in die Wildnis der Tundra, wo im Oktober 1998 die erste und bislang einzige Diamantenmine auf dem nordamerikanischen Kontinent ihren Betrieb aufgenommen hat. Von der Ekati-Mine kommen bereits sechs Prozent der weltweiten Rohdiamanten-Produktion (gemessen an ihrem Wert). Wenn in zwei Jahren eine weitere Mine in derselben Gegend ihren Betrieb aufnimmt, wird Kanada nach Botswana und Russland der drittgrößte Diamanten-Lieferant der Welt sein. Ein Kleinflugzeug, das täglich die Ekati-Mine anfliegt, ist frühmorgens voll gepackt mit unausgeschlafenen Minenarbeitern. In Zwei-Wochen-Schichten arbeiten sie zwölf Stunden am Tag, dann fliegen sie für zwei Wochen nach Hause. Manche wohnen weit weg, die guten Löhne haben sie nach Ekati gelockt. Durch das Bullauge des Flugzeugs sieht man viele kleine silberne Seen - karge Tundra bis an den Horizont. Hier fällt das Thermometer im Winter auf bis zu 40 Kältegrade, dann werden die Schutzhelme der Minenarbeiter mit Schaffell ausgekleidet. Während des kurzen Sommers fallen Stechmücken über alles Warmblütige her. Diesen Teil der Tundra hatte der erfahrene Geologe Chuck Fibke, ein Kanadier aus der Stadt Kelowna, jahrelang nach Gesteinsproben durchkämmt - heimlich, sodass niemand davon erfuhr. Fibke wusste, dass rübenförmige Röhren aus vulkanischem Kimberlit, die Diamanten enthalten, oft in Mulden unter Seen verborgen lagen. Im Gebiet des Lac de Gras, rund 200 Kilometer südlich des Polarkreises, fand er zwei Seen, deren geophysische Beschaffenheit auf Kimberlit-Röhren hinwiesen. Fibke überzeugte 1990 den australischen Bergbaukonzern BHP, ein Joint Venture mit seiner Firma einzugehen. Dann steckten er und BHP fieberhaft die Claims ab. Im Herbst 1991 holte man die ersten großen Edelsteine aus dem Boden. Da brach das Diamantenfieber in Yellowknife aus. Dutzende von Bergbauunternehmen suchten das Gebiet des Lac de Gras ab, nur wenige mit Erfolg. Mitten in der Tundra tauchen nun plötzlich Fabrikhallen, Maschinen, Schotterstraßen und Flugpisten auf, neben denen unbeeindruckt Karibus grasen. Ein großer Haufen von grünlich-schwarzem Kimberlit, dem diamanthaltigen Vulkangestein, liegt auf dem Grund einer offenen Grube mit dem Namen "Panda", einem monströsen Loch von 500 Metern Durchmesser. Auf einer zwei Kilometer langen Schotterstraße, die dem Kraterrand entlang in die Tiefe führt, wanken riesige Lastwagen herauf. Ihre Pneus sind so hoch wie zwei normal große Menschen. Die Minenarbeiter haben die Ader bereits bis in eine Tiefe von 200 Metern abgebaut. "Panda" ist laut Experten eine der diamantenreichsten Gruben der Welt. Sie liefere erstklassige Schmucksteine, sagt Minenverwalter Mike Makarenko, "zu einem Spitzenpreis von 168 US-Dollar pro Karat". Kanadas Diamanten können sich von der Qualität her mit jenen aus den besten Minen der Welt messen. Deshalb haben sich auch der südafrikanische Diamanten-Gigant De Beers und der britische Bergbaukonzern Rio Tinto Plc. einen Platz im Gebiet des Lac de Gras gesichert. Die Panda-Mine wird Ende 2002 von oben her ausgeschöpft sein. Dann wird die Ausbeutung tief im Untergrund anfangen. In Ekati warten weitere sieben diamanthaltige Minen auf den Abbau. Rund 10.000 Tonnen Kimberlit kommen derzeit in Ekati täglich herein, das entspricht etwa 10.000 Karat - oder einem Kaffeekrug voller Rohdiamanten im Wert von über 1,6 Millionen US-Dollar. Die Mine soll einst 3,5 bis 4,5 Millionen Karate jährlich produzieren. In Ekati bekommen Außenstehende die herausgepflückten Rohdiamanten nur auf dem Monitor der Sicherheitsabteilung zu sehen. Die Polizei in Yellowknife sagt, man habe Hinweise, dass sich das organisierte Verbrechen für den neuen Reichtum interessiert. Im Zentrum der freundlich-rauen Pionierstadt Yellowknife spannen sich Flaggen mit der Aufschrift "Diamanten-Hauptstadt von Nordamerika". Yellowknife möchte ein Diamantenzentrum wie Antwerpen werden - nur kleiner. In den Ateliers von Hilary Jones weihen erfahrene Schleifer aus Armenien junge Kanadier, darunter viele Dogrib-Indianer aus der Gegend, in die Kunst der Diamantenbearbeitung ein. Die Edelsteine aus der Arktis seien gefragt, "trotz eines eher schwachen Weltmarktes", sagt Hilary Jones. Vor allem in den USA, dem Absatzmarkt für etwa 45 Prozent der weltweiten Diamanten, ist das Interesse groß. Kanadische Edelsteine sind im Gegensatz zu "Blutdiamanten" aus Angola oder Sierra Leone, wo mit Edelsteinen Bürgerkriege finanziert werden, "politisch korrekt". Jeder Diamant aus Kanada kann seine Herkunft nachweisen. Mit einem Laserstrahl erhält er einen "Fingerabdruck", ein winziges eingraviertes Symbol, und später ein Zertifikat der Regierung. Während Yellowknife boomt und Luxusprobleme hat - es fehlt an Arbeitskräften und Wohnraum -, ist der Begründer ihres Wohlstands längst weitergezogen. Chuck Fibke sucht jetzt, so ist zu lesen, in Jemen nach den legendären Goldminen des Königs Salomon. derStandard/rondo/7/12/01