Wien - Nördlich von Washington liegt die ungleich größere Stadt Baltimore. Ihr Hafen mit einer imponierenden Kailänge von 60 Kilometern zählt zu den bedeutendsten der Vereinigten Staaten. Selbiges lässt sich vom Baltimore Symphony Orchestra (BSO) nicht so ohne weiteres sagen, wenngleich seine üppige personelle Besetzung ebenfalls die Neigung zu luxuriöser Großzügigkeit erkennen lässt. Akustisch schlägt sich diese in erhöhter Fortissimofreudigkeit nieder, die von Chefdirigent Yuri Temirkanow eher noch gefördert wird. Zweifellos war es taktisch nicht sehr glücklich, sich gleich beim ersten der beiden Jeunesse-Auftritte im Wiener Musikverein mit einem ausschließlich aus Knüllern bestehenden Programm doch zu sehr allen möglichen sich aufdrängenden Vergleichen auszusetzen. Von einem so erfahrenen Routinier wie Yuri Temirkanow, der schon seit mehr als zwei Jahrzehnten Chef der St. Petersburger Philharmoniker ist, hätte man da schon ein größeres Maß an prophylaktischem Weitblick erwartet. Denn ohne diesen wurde der zweite - für den Erfolg eines Konzertabends stets entscheidende - Teil mit La mer von Claude Debussy und Maurice Ravels La valse zu einer allzu eindrücklichen Dokumentation stilistischen Fehlverhaltens. Und dies trotz - oder am Ende gar auch wegen - der beachtlichen rhythmischen und spieltechnischen Sicherheit der Gäste. Die vibrierenden, zum Teil fast unmerklich changierenden Nuancen der beiden Werke wurden von einer beinah barocken Terrassendynamik eingeebnet. Am wenigsten beeinträchtigt schien die Wiedergabe des zweiten Klavierkonzertes von Franz Liszt. Nicht nur, weil André Watts die melodischen Linien klar und schlüssig nachzog. Auch das Orchester korrespondierte (nicht zuletzt durch Temirkanows ordnende Hand) mit dem Solisten harmonisch, bald als Fundament des Soloinstruments, bald durch schimmernde Spiegelung der pianistischen Figuren und Entwicklungen. Da war die Akademische Festouvertüre von Johannes Brahms zum Start des Konzertes von anderem Kaliber. Das Patchwork aus Studentenliedern kam so philiströs, wie es in der Partitur steht. (DER STANDARD, Printausgabe vom 7./8./9.12.2001)