E. L. Doctorow,
City of God.
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Angela Präsent.
öS 328,-/EURO 23,84/400 Seiten.
Kiepenheuer& Witsch, Köln 2001.

Foto: Kiepenheuer& Witsch
Doctorow scheint nichts Geringeres im Sinn gehabt zu haben, als pünktlich zum Erscheinungsjahr 2000 einen Jahrhundertroman zu veröffentlichen. Er holt weit aus, beginnt mit der Chaostheorie, reflektiert über die Entstehung des Universums, lässt Einstein zu Wort kommen und Wittgenstein räsonieren, lässt das Autor-Ich Everett über den Vietnamkrieg referieren und den Haupthelden Reverend Pemberton eine Kiste mit Aufzeichnungen aus dem Getto von Wilna herbeischaffen, dazwischen lässt er das Midrash Jazz Quartett psalmodieren, und Reverend Pemberton (kurz Pem) spricht mit Gott und seinem ungehaltenen Bischof, der ihn wegen mangelnder Linientreue seines Amtes entheben will. Die Kritik hat die Komplexität des Buches gerühmt, den großen Bogen, die schillernde Tiefe. Man könne daher die Story nicht nacherzählen. Es gibt in diesem Roman mehrere Storys, die nebeneinanderher laufen und durch die Figuren manchmal stringenter, manchmal loser verbunden sind, und einige Geschichten versickern einfach, als hätte der Autor sie im Dschungel seiner Themenvielfalt vergessen. Die Haupthandlung ist allerdings recht dürr und bizarr. Reverend Pem von der Episcopal Church in Manhattans East Village sucht das große Messingkreuz, das zusammen mit den meisten anderen Ritualgegenständen aus seiner Kirche gestohlen wurde. Diese Suche führt ihn zu einer Reformsynagoge an der Upper West Side und in den Haushalt des Rabbinerehepaars Sarah und Joshua Gruen. Um zu einem Happyend mit der Hochzeit zwischen Pem und Sarah und zum dadurch notwendig gewordenen Glaubensübertritt des Reverend zum Judentum zu gelangen, muss der störende Dritte, Rabbiner Joshua, vor einer Synagoge in Wilna erschlagen werden, Sarahs Vater seiner Tochter die Geschichte seines Überlebens im Getto berichten, ein Reporter wie durch Zufall mit unfehlbarer Trefferquote einige Massenmörder der großen Genozide des Jahrhunderts erledigen - und es müssen beachtliche Mengen nebenher erwähnten biografischen Materials von Nebendarstellern heruntererzählt werden. Glaubhafte oder interessante Figuren kommen bei dieser Hast nicht zustande, aber darum soll es ja offenbar in dem Roman gar nicht gehen. Es wird auch nicht ganz klar, was die Reformrabbinerin und den Reverend so sehr zueinander hinzieht, außer dass der neunmalkluge Ich-Erzähler-Autor Everett die Fäden so zieht, dass sie einfach nicht anders können. Worum geht es dem Autor, wenn es ihm nicht um die Handlung und auch nicht um die Figuren geht? Offenbar um die Fragmentierung, die Austauschbarkeit und die daraus entstehende Beweglichkeit der atomisierten Realität, ein postmodernes Thema. Weil es keine objektive Wirklichkeit, sondern nur unsere Wahrnehmung von ihr gibt, ist sie nichts als eine Spiegelung unseres Bewusstseins, und indem er diese Theorie lustvoll weiterspinnt, gelangt der Autor in ein Spiegelkabinett, in dem die Illusionen der Wirklichkeit sich endlos fortsetzen. Dagegen stehen allerdings ein paar harte Brocken unverdaulicher Geschichtsfakten, die Katastrophen, an denen das 20. Jahrhundert nicht eben arm ist. Dem Strukturprinzip der Beliebigkeit, das Doctorow von Einstein und Wittgenstein abgeleitet haben will, wird folgerichtig dem Roman übergestülpt, so kann alles mit allem verknüpft werden, immer unter dem Diktat des dichterischen Gestaltungswillens, der durch den fiktiven Autor gegenwärtig ist. Der hat alle Qualitäten des Absoluten, dem ansonsten die vielfältigen Reflexionen um und gegen einen Weltschöpfer auf den Leib zu rücken versuchen. Gewiss ist das Konzept dieses Romans ein überwältigendes Unterfangen, in dem sich der Autor nicht mit einer beliebigen Figurenkonstellation oder dem Erzählen von Geschichten aufhalten kann, geht es doch um Ideen und Welterklärungsmuster und eine Bestandsaufnahme des ganzen Jahrhunderts so umfassend und exemplarisch wie möglich. Nur leider ist das ordnende Bewusstsein des Romans auch wieder nur der Kopf des wiewohl belesenen, notwendigerweise auch von endlicher Kapazität eingeschränkten Autors. Das Beste an dem Buch sind jene eingesprengten Essays zu Themen, über die er aus Erfahrung und mit Sachkenntnis redet, etwa der Exkurs über die Geschichte des Films. Aber um zu so vielen anspruchsvollen Themen wie der Quantentheorie und der Wahrnehmungsphilosophie, der vergleichenden Religionswissenschaften, der Judaistik, der Ornithologie und der Geschichtsphilosophie etwas Bemerkenswertes hinzuzufügen, reicht es möglicherweise nicht aus, ein speicherfähiges Gedächtnis und einige originelle Ideen zu haben. Angesichts jener Abschnitte, wo man sich als Leser ein wenig besser auskennt als der Autor, wird man sich betrogen fühlen, denn da erfährt man nicht viel mehr als die Klischees, die, als Essenz ausgegeben, schon längst Gemeinplätze geworden sind. Der Roman, der keiner sein will, mag breit gefächert und erstaunlich gelehrt und sprachlich auch flexibel sein, aber seine Komplexität ist eine kumulative und vieles ist schon an anderer Stelle besser und mit mehr Tiefgang gesagt worden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7./8./9. 12. 2001)