Silvio Berlusconi ist ein vorausschauender Mensch. Der italienische Ministerpräsident weiß zwar, dass der geplante EU-Haftbefehl auf amtierende Regierungschefs sowieso nicht anwendbar sein wird. Doch er weiß auch, dass man in Italien aller Erfahrung nach nicht lange genug Ministerpräsident bleibt, um die Verjährung aller Delikte abzuwarten, derer man verdächtig ist. Was liegt da näher als der Versuch, aus der gemeinsamen europäischen Regelung die Straftatbestände ausnehmen zu lassen, die einem persönlich lästig werden könnten. Eine andere Möglichkeit ist - mit Blick auf die Verjährung -, die Einführung des EU-Haftbefehls so lange wie möglich zu verzögern. Genau darauf zielt Berlusconis Justizminister Roberto Castelli ab, der sich ein Inkrafttreten erst ab 2008 wünscht. Alibihandlung Als geschickter Politiker versteckt sich Castelli dabei unter dem Regenschirm, den Italiens nördlicher Nachbar aufgespannt hat, und spricht von einer "österreichischen Lösung". Den Aufschub, den Justizminister Dieter Böhmdorfer für seine Regierung ausgehandelt hat, weil sie keine verfassungsändernde Mehrheit im Nationalrat hat, dient nun den konservativen Freunden in Italien als Alibi. Dass die Regierung in Rom dann noch schnell mit dem Argument bei der Hand ist, mit Rücksicht auf die Rechte der Bürger sollte der EU-Haftbefehl ohnehin erst nach Verabschiedung einer EU-Verfassung eingeführt werden, grenzt an eine Beleidigung der anderen Mitgliedstaaten. Liegt darin doch die Unterstellung, dass nicht überall in der Europäischen Union die prozessualen Grundrechte der Menschen gesichert seien. Dabei garantieren dafür nicht nur die Verfassungen der einzelnen Staaten, sondern auch die Europäische Menschenrechtskonvention. Italien blockiert Vertiefung der Union Mit dem Verweis auf die EU-Verfassung und auf Österreich will die Regierung Berlusconi verschleiern, was offensichtlich ist: Der Pionierstaat der europäischen Einigung steht in einer entscheidenden Frage der Vertiefung der Union im Wege. Und er steht völlig isoliert da: Die vierzehn anderen EU-Mitgliedstaaten wollen nämlich einen möglichst weit reichenden Haftbefehl. Dass auch ein Großteil der Bürger Europas von der EU gerade die gemeinsame Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität erwartet, schert Berlusconis Regierung wenig. Erst vor zwei Monaten erschwerte sie sogar die internationale justizielle Zusammenarbeit durch die Anordnung, dass alle Amtshilfeersuchen von ausländischen Staatsanwaltschaften immer über das Justizministerium in Rom laufen müssen. Bisher ging das auch auf dem "kleinen Dienstweg" von Staatsanwalt zu Staatsanwalt. Nutznießer Berlusconi Die Obstruktionspolitik der Regierung Berlusconi zeigt aber noch etwas anderes: wie wichtig und berechtigt die "Einmischung" der Regierungen, Medien und Bürger der EU in die "inneren Angelegenheiten" jedes einzelnen Mitgliedstaates ist. Denn sie sind letztlich - wie im Falle des EU-Haftbefehls - innere Angelegenheiten der ganzen Union. Mit Berlusconi müssen eben alle Europäer leben. Zudem macht besonders der Fall Berlusconi deutlich, wie nötig eine engere Kooperation der Justiz ist: Gerade der italienische Medienmogul hat sich die europäische Einigung immer gern für die Förderung seiner europaweit verzweigten Wirtschafts- und sonstigen Interessen zunutze gemacht. Einer europaweiten juristischen Kontrolle von Wirtschafts- und sonstigen Aktivitäten steht er nun aber ablehnend gegenüber. Schily stellt die Rute ins Fenster Der deutsche Bundesinnenminister Otto Schily sah angesichts des Verdachts, dass Berlusconi sein Privatinteresse vor das Gemeininteresse in Europa stellt, in der vergangenen Woche nur noch einen Ausweg: Er drohte mit dem großen Bruder aus Amerika. Mit Blick auf den bevorstehenden Besuch des US-Justizministers in Europa sagte Schily, er könne sich nicht vorstellen, dass Ashcroft die von Italien geforderten Einschränkungen für den Haftbefehl akzeptieren werde. Wenn europäische Innenpolitik so ausschaut . . . (DER STANDARD Print-Ausgabe, 11.12.2001)