Wien - Gegen die entfesselte Rachegier des auf Malta um seine Eigentumsrechte streitenden Juden Barabas nimmt sich Shakespeares mögliches Pendant Titus Andronicus wie ein gut frühbürgerliches Blut-Rührstück aus. Auch aus dem jugendlichen Dichter Christopher Marlowe (1564-1593) wird man in Ermangelung einschlägiger Dokumente nicht recht klug. Tatsächlich muss Marlowe eine gediegene Ausbildung in Rhetorik erhalten haben - auf einem jener Colleges, die mit der Vermittlung "klassischer" Bildung nicht gerade geizten. An Marlowes Dramen jedenfalls beißt sich die geläufige Küchenpsychologie die Holzzähne einzelweise aus. Der Dichter türmt die klassischen Blankverse zu wahren Sprachwällen hoch. In diesen Massiven stecken Edelsteine, gelehrte Anspielungen, Gossenvokabel zuhauf. Auf den Gipfeln ihrer Ausdruckskraft aber hocken die Figuren und drehen den Soziologen mit den heutigen Verstehensansprüchen reihenweise die lange Nase. Bei Marlowe verströmt noch der üppig in Szene gesetzte Terror die befreiende Kraft einer nichts als der "Schönheit" verpflichteten Anarchie - und setzt damit auch den Vorwurf des Antisemitismus einigermaßen außer Kraft. Der nicht geringste Vorzug von Elfriede Jelineks, mit Karin Rausch zusammen erstellter Neuübersetzung von Der Jude von Malta liegt in der analytischen Kraft eines "freieren" Zugangs zum Vers. Die Transaktionen aber, mit deren Schilderung Barabas das Drama beginnt, sind sachlich, um den möglichen Preis von Flapsigkeiten ("für ’ne Tonne Kies" meint einen Haufen Geld) und des Verzichts auf allzu "verjiddelte" Sprachblüten. Mehr noch als Wolfgang Schlüters poetisch prunkende, sehr zu empfehlende Leseausgabe von Marlowes Gesamtwerk (bei Eichborn, Berlin) rückt Jelinek die allgegenwärtige Bedeutung des Tauschwerts ins Zentrum: Barabas muss als "Verfluchter" vom Stamme Israel immerzu Mammon anhäufen, weil ihm Maltas Gesellschaft jeden anderen Zugang zur Öffentlichkeit verwehrt. Der zäh erscheffelte Mehrwert steht für jene Transzendenz ein, die ihm als "Christus-Mörder" schnöde abgesprochen wird. In Wahrheit war Marlowe ein analytisches, zähnefletschend zynisches Genie. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14. 12. 2001)