Krakau liegt Wien in der Luftlinie (und nicht nur in dieser) näher als München. Per Bahn ist man von Wien schneller in der alten polnischen Königsstadt als in Bregenz, und einen Speisewagen gibt's auch, zumindest auf dem Großteil der Strecke.Das ändert aber nichts daran, dass die östlichen Teile der ehemaligen Donaumonarchie im Wissen und folglich auch im Bewusstsein der meisten Österreicher ein großes schwarzes Loch darstellen. Und so muss es wohl auch ein - freilich hartnäckiges - Gerücht sein, dass man vor knapp hundert Jahren von Wien mit der Elektrischen zum Sonntagnachmittagskaffee nach Preßburg fuhr. Jedenfalls war man damals kaum langsamer als heute mit Bahn oder Auto. Zwei Jahre vor der geplanten Aufnahme der ersten ostmitteleuropäischen Kandidatenländer in die Europäische Union ist der Nachholbedarf auch diesseits der jetzigen EU-Außengrenze noch enorm. Und das in fast jeder Beziehung. Beispiel Verkehr: Bis die lächerlichen 20 Kilometer Verbindungsspange vom längst fertig gestellten slowakischen Autobahngrenzübergang Jarovce/Kittsee zur Ostautobahn gebaut sind, wird es noch Jahre dauern. Kultureller Bogen Da sind die Lücken im Wissen schon schneller zu schließen. Eine Welle von neuen Büchern über die Kandidatenländer, aber auch über den größeren ostmitteleuropäischen Raum macht Ausreden immer schwieriger. Erfreulicher Nebeneffekt: Mit den Neuerscheinungen rücken auch Werke, die schon länger aufliegen, wieder ins Interesse. Der hier präsentierte selektive Überblick spannt einen geographischen, kulturellen und historischen Bogen von der Wien nächstgelegenen Grenze bis zum Ostrand der ehemaligen Monarchie - und darüber hinaus. Gabriele Matzner-Holzer, Österreichs scheidende Botschafterin in der Slowakei, hat ihre Erfahrungen in einem Buch festgehalten, aus dem große Zuneigung zum Gastland und viel Einfühlungsvermögen sprechen. Dies übrigens auch aus ihren Aquarellen und Pastellbildern, die derzeit in einer Galerie in unmittelbarer Nähe der Botschaft im Zentrum von Bratislava, in der Venturská, zu sehen sind. In ihren Texten versucht die Autorin möglichst viele Aspekte der slowakischen Realität zu erfassen. Dass ihr dies gelingt, ohne dass sie dabei oberflächlich bleibt, macht das Buch auch für jene nützlich, die die Slowakei schon zu kennen glauben. Systematischer gehen der polnische Historiker und Journalist Julian Bartosz und sein österreichischer Kollege Hannes Hofbauer in ihrem Buch über Schlesien vor, dieses "europäische Kernland im Schatten von Wien, Berlin und Warschau". Hat Schlesien, das stets Subjekt und Austragungsort von Großmachtinteressen war, eine rosigere Perspektive als "Euroregion"? Das lässt sich nach Lektüre dieses Bandes zumindest mit etwas mehr Begründung hoffen. Sicher ist ein beträchtlicher Wissens- und Verständnisgewinn. Komprimierte Information über das heutige Polen insgesamt liefert ein soeben bei Molden erschienener Almanach: Ein Nachschlagewerk mit kurzen Einführungen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Verwaltung, das vor allem wegen der vielen Kontaktadressen gut nutzbar ist. Vom "Illustrierten Führer durch die Bukowina" kann man dies leider nur sehr begrenzt sagen. Denn die Gastronomen, Händler, Handwerker und vielen anderen Dienstleister, die sich in den Inseraten anbieten, gibt es nicht mehr. Und doch ist dieses Werk ein wahres Kleinod - als Zeugnis einer bis heute einzigartigen Koexistenz von Nationalitäten, Kulturen und Religionen. Helmut Kusdat hat den Band, der zum 500-Jahr-Jubiläum von Czernowitz 1907/08 erschien, im Wiener Mandelbaum Verlag neu herausgegeben. Autor Hermann Mittelmann beschrieb damals die Metropole des Buchenlandes (deutscher Name für Bukowina) in der Wiener Neuen Freien Presse als "Bollwerk der Kultur und des Fortschrittes". Dass dieses Bollwerk dem Ansturm von Nationalismus und Rassenwahn nicht standhalten konnte, ändert nichts an seiner Bedeutung. Heute liegt Czernowitz in der Ukraine und heißt, je nach Transkription, Czernivtsi oder Cérnivci oder Tscherniwtsi. Was auch schon wieder einiges über kulturelle Identitäten sagt. Einigkeit herrscht aber wohl darin, dass die Entwicklung in der Ukraine entscheidenden Einfluss auf ganz Ostmitteleuropa haben wird. Der vom Österreichischen Ost- und Südosteuropainstitut herausgegebene Sonderband "Ukraine" liefert in zahlreichen Beiträgen auf mehr als 800 Seiten fundierte Analysen zu diesem nach Russland zweitgrößten Flächenstaat Europas. Dabei kommen auch - und hier schließt sich der Bogen wieder - die "Ukrainer in Wien" und deren gewichtiger Beitrag zur nationalen Kultur zur Sprache. (Von Josef Kirchengast - DER STANDARD, Album, Sa./So., 15.12.2001)