Europäische Paradoxa: Ein Aristokrat sitzt dem Gremium vor, das allem Anschein nach die Grundlagen für eine künftige EU-Verfassung ausarbeiten wird. Aber vielleicht lag es ja am Tagungsort der 15 Staats- und Regierungschefs. Im belgischen Königsschloss von Laeken erkoren sie am Wochenende den Franzosen Valéry Giscard d'Estaing zum Präsidenten des "Konvents über die Zukunft Europas".

Dass die Wahl auf ihn fiel, sorgt freilich nicht wegen seines blauen Blutes für Kritik, sondern wegen seines hohen Alters. Viele Gegner der Entscheidung - unter ihnen auch Portugals Außenminister Jaime Gama - fragen sich, warum gerade ein 75-Jähriger die EU in die Zukunft führen soll. Hinzu komme, dass Giscard außer dem Vorsitz der rechtsliberalen Partei UDF von 1988 bis 1996 seit 20 Jahren kein verantwortungsvolles Amt mehr innehatte.

Speziell aus Sicht von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sprach für Giscard, dass er Österreich während der EU-14-Maßnahmen im Jahr 2000 zur Seite gestanden ist. Die allgemeine Begründung in Laeken für die Wahl lautete dann aber, Giscard habe eben große politische Erfahrung.

Die kann ihm, der zwischen 1974 und 1981 französischer Staatspräsident war, in der Tat niemand absprechen. Zudem gilt er als überzeugter Europäer - nicht nur, weil er im seinerzeit französisch besetzten Koblenz geboren wurde. Giscard wird nachgesagt, dass er insgeheim schon immer den Traum hegte, sogar "Präsident Europas" zu werden.

Tatsächlich hat er, der Konservative, zusammen mit seinem politischen Freund, dem damaligen deutschen Kanzler Helmut Schmidt (SPD), in Europa einiges in Bewegung gesetzt. Unter anderem das europäische Währungssystem, das - sozusagen als Vorläufer des Euro - für Wechselkursstabilität sorgen sollte.

Außerdem hat sich VGE, wie ihn die Franzosen nennen, lange für ein föderales Europa eingesetzt. Erst vor kurzem ruderte er etwas zurück und sprach nur noch von einer "Staatenunion mit föderalen Kompetenzen". Dass Giscard dem EU-Konvent vorsitzt, kann der europäischen Sache aber in jedem Fall nützen, da es Frankreich schwer fallen dürfte, Reformvorschläge abzuschmettern.

Als Präsident war Giscard nur eine Amtsperiode beschieden. Dem aktuellen Amtsinhaber Jacques Chirac ist der als arrogant geltende Adlige seit der missglückten Wiederwahl 1981 gram: Giscard hatte den konservativen Konkurrenten damals im ersten Wahlgang geschlagen, dieser seinen Kollegen in der Stichwahl gegen den Sozialisten Fran¸cois Mitterrand aber nur lau unterstützt.

Das trägt VGE Chirac bis heute nach. Er rächte sich zuletzt dadurch, dass er den - erfolgreichen - Vorschlag einbrachte, die Präsidentschaft auf fünf Jahre zu verkürzen.

(DER STANDARD, Printausgabe, 17.12.2001)