Kabul - Suraya Parlika will sich nicht mehr verstecken. "Die Burka habe ich schon weggeschmissen. Ich trage so etwas nie mehr." Die beiden blauen Ganzkörperumhänge, die im Vorzimmer in der Wohnung der Vorsitzenden der Frauenunion Afghanistans hängen, gehören ihren beiden Schützlingen. Die 22-jährige Alean Haider schüttelt etwas verlegen die Schultern. "Es ist einfach sicherer." Die gleichaltrige Yalda Jareer pflichtet ihr nickend bei.Nach dem Sturz der Taliban organisierte Parlika, die trotz ihres Alters von 57 Jahren in ganz Afghanistan unter ihrem Spitznamen "Fräulein" bekannt ist, am 19. November eine Demonstration. Obwohl die Nordallianz die Kundgebung am Vorabend verboten hatte, marschierten mehr als tausend Frauen durch die Stadt zum Sitz der UNO, Parlika an der Spitze. Sie forderte ihre Landsfrauen auf, keine Burka mehr zu tragen. "Alle sagten mir, dass sie ab morgen ihr Gesicht zeigen werden. Die meisten streiften die Burka sofort ab." Als aber die neuen Machthaber am folgenden Tag eine Erklärung herausgaben, wonach aus Sicherheitsgründen das Tragen der Burka dringend empfohlen wurde, holten die Frauen das Kleidungsstück wieder aus dem Schrank. In der Stadt sind fast keine Frauen ohne Burka zu sehen. Und die meisten Männer haben auch noch ihren Bart - oder sich wieder einen wachsen lassen. Denn auch in Kabul hat sich ein Vorfall aus der Vorwoche herumgesprochen: Im Grenzgebiet zu Pakistan stürmten Taliban-Anhänger in einen Bus und schnitten jenen Männern Ohren und Nasen ab, die keinen Bart trugen. Sie hatten in dieser abgeschiedenen Gegend noch nicht erfahren, dass die Taliban nicht mehr an der Macht sind. "Es warten einfach noch viele ab", meint Parlika. Sobald das Übergangskabinett am 22. Dezember die Arbeit aufnimmt, will die Frauenrechtlerin um einen Termin ansuchen. Wichtigstes Anliegen der neuen Regierung müsse es sein, dass Frauen "völlig gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilhaben dürfen". Wechselnde Identitäten Sie selbst lebte während der sechsjährigen Taliban-Herrschaft versteckt und wechselte ihre Identitäten. Im Untergrund organisierte die studierte Ökonomin im ganzen Land Kurse für Afghaninnen, obwohl es verboten war, Mädchen und Frauen auszubilden. Wenn in einer Wohnung Afghaninnen zusammenkamen, die Burka ablegten und Englisch, Chemie, Mathematik oder Teppichknüpfen lernten, dann stand jemand Schmiere. Wer von den Schülerinnen den Unterrichtsstoff am besten beherrschte, machte eine neue Klasse auf. Mehr als tausend Afghaninnen wurde so eine Ausbildung ermöglicht. Die Früchte ihrer Arbeit kann Parlika heute ernten: Alean Haider kam rasch aus der Nachbarschaft angelaufen und übersetzte die Worte der Vorsitzenden der Frauenunion, die Paschtu spricht, ins Englische. Haider begann vor zweieinhalb Jahren, die Fremdsprache zu lernen. Inzwischen bringt die 22-Jährige selbst Mädchen Englisch bei. Dass sie sich nicht unterkriegen lässt, hat Parlika bei all den wechselnden Regimen in Afghanistan unter Beweis gestellt. 1978 kam die Frauenrechtlerin für eineinhalb Jahre ins Gefängnis, weil sie als damalige Vorsitzende der Demokratischen Frauenliga zu weit reichende Forderungen gestellt hat. Von den Folterungen durch Elektroschocks zeugen noch heute Narben. Nie aufgegeben Parlika kämpfte dennoch weiter. Weil die Mudjahedin willkürlich Männer entführten, Frauen vergewaltigten und ihnen Schwierigkeiten machten, zur Arbeit oder Ausbildung zu kommen, gründete sie 1992 die Frauenunion. "Schon damals habe ich mir gedacht, es kann nicht schlimmer werden. Aber es kamen die Taliban." Ans Aufgeben oder Auswandern hat sie nie gedacht: "Wir Frauen haben schon viele Schwierigkeiten überstanden und sind sehr zäh", sagt sie lachend. DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 19.12.2001