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1, auf einer Insel namens Mortes-Frontières, die nur zwei Bewohner hat, sieht man von ein paar "Schergen" ab. Ein 77-jähriger Kapitän hält eine 23-jährige Frau in einem Horrorhaus mithilfe von psychischem Druck gefangen - ihr Gesicht sei nach einem Unfall entstellt. Keine Spiegel im ganzen Haus, etcetera. Nebenbei missbraucht er die junge Frau als Geliebte. Sie verabscheut den Alten, verspürt jedoch eine tiefgehende Pflicht zur Dankbarkeit gegenüber ihrem Lebensretter und Wohltäter. Irgendwann wird das Mädchen körperlich krank, die Krankenschwester Françoise muss täglich auf die Insel kommen. Diese wird vom Alten eingeschüchtert, damit sie keinen persönlichen Kontakt zum Opfer aufnimmt: Man möchte meinen, eine Konstellation für ein packendes Psychodrama, wie es die 1967 geborene französische Autorin Amélie Nothomb bereits einige Male virtuos inszeniert hat. Leider begreift selbst der hoffnungsloseste Nothomb-Fan bereits nach dreißig Seiten, dass die Autorin bei Quecksilber keinerlei Rücksicht auf Glaubwürdigkeit legt. An einem ungeduldigen Abend zu lesen, stimmt hier nichts zusammen, weder Erzählstimmen noch Dialoge noch Rhythmus; die Figuren handeln mutwillig und unlogisch. Man könnte zur Verteidigung die märchenhaften Elemente ins Treffen führen, nur wäre selbst ein mittelmäßiges Märchen grundsätzlicher, einfacher, und würde gerade dadurch jene Kraft des Fantastischen erlangen, die eventuelle Unglaubwürdigkeiten reizvoll macht. Als "Höhepunkt" inszeniert Nothomb den Dialog zwischen einer moralisch Entrüsteten (Françoise) und einem durch und durch Verworfenen (der Alte). Dass der "Lustgreis" letztlich von seinem Opfer in Schutz genommen wird und von der Erzählerin als "Er war wirklich edelmütig" charakterisiert wird, verschlimmert die Sache. Was womöglich als Provokation gemeint war - Thematik: Gequälte nimmt Folterknecht in Schutz - kommt peinlich altbacken daher. Der einzige Hoffnungsschimmer - die Idee, dass Françoise nach dem Tod des Alten dessen perverses Unterdrückungssystem übernimmt und der jungen Frau die Gesichtsentstellung weiter vorgaukelt - wird jenseits aller Geduldschwellen und unerträglich rosamundepilcherhaft ausgespielt. Die Mächtigen sind, so sagt man über menschliche Beziehungen, mächtig und ohnmächtig zugleich. Bei Quecksilber sind sie abwechselnd mächtig und ohnmächtig, beliebig wie in einem Würfelspiel. Anstelle einer Analyse der Mechanismen von Macht und Ohnmacht liefert Nothomb Seelengequatsche. Man kann sich das mulmige Gefühl im Diogenes Verlag und die Enttäuschung des (sehr guten) Übersetzers Wolfgang Krege lebhaft vorstellen: Ein missglücktes Buch muss auf den Markt gebracht werden, weil die Mechanismen das zu verlangen scheinen; also Augen schließen und das Beste geben. Hatte Amélie Nothomb den privaten Horror in Der Professor (1995, Diogenes 1996) meisterhaft dargestellt, so tröpfelt dieser bei Quecksilber (das Original erschien 1998) dem Lesenden in unbeholfenen Dosen entgegen. Gelingt es ihr im Roman Mit Staunen und Zittern (1999) souverän, die Spannungsfelder zwischen zwei Kulturen mit wenigen Strichen zu skizzieren, so herrscht bei Quecksilber die spannungslose Vorhersehbarkeit einer Seifenoper-Wiederholung. Anstelle des Märchens ist die Karikatur eines solchen herausgekommen, geschwätzig, pathetisch und realitätsverweigernd wie ein 20.15-Film mit Barbara Wussow und Albert Fortell. Trotzdem freue ich mich aufs nächste Buch von Amélie Nothomb. (Von Martin Amanshauser - DER STANDARD, Album, Sa./So., 22.12.2001)