Die Grünangergasse war im Krieg schon einige Reisen wert, jeder Weg konnte leicht zur Reise werden. Vom linken unteren Ende der Marc-Aurel-Straße, die bis heute nichts von ihrer Gottverlassenheit verloren hat, konnte man leicht - fast mit einem Katzensprung - das Hauptquartier der Gestapo erreichen, im ehemaligen, teuren "Hotel Metropol".Aber nur wenige Katzen hätten den Sprung riskiert, denn die Wiener Gestapo galt im Reich als vorbildlich, selbst Katzen kamen dort leicht in Gefahr, ihr Augenlicht rascher zu verlieren, ehe sie den ehrgeizigen Musterschülern dort ins Gesicht springen konnten. Diese Gestapo war still und anonym. Die Schreie und Kreuzverhöre landeten im Keller, aus dem die Weinvorräte auf den großzügig entworfenen Gestellen des Hotels rasch verschwanden. Als man von Sigmund Freud vor seiner Emigration einen entlastenden Satz über die Wiener Gestapomethoden verlangte, schrieb er ihn, ohne zu zögern, hin: Er könne nicht anders, als diese Gestapo jedem zu empfehlen. "Dr. Freud an Bord", hörte ich, so oft ich ihn später ansah, im Film Titanic mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio, dem blassen und etwas aufgeschwemmten Helden der meisten Teenager. Aber Sigmund Freud gehört nicht zur Klientel der Titanic. Auch seine sehr späte Flucht aus Wien gehört zu den unglaubwürdigen Reisen. Was danach mit der Berggasse 19 geschah, ist sicher verbucht. Aber in diese Gegend verirrte sich kaum, wer aus dem Fasanviertel kam, aus dem stillen dritten Bezirk. Auch was dort alles längst verlassen, zertrümmert, geplündert und verbrannt war, ist sicher verbucht. Aber was wurde aus der Grünangergasse? Die "Titanic" erreichte New York nicht ohne ihre berühmte Katastrophe. Auch in Wien rissen die Katastrophen nicht ab. Aber sie blieben in der Verborgenheit, die den eigentlichen Katastrophen zusteht. Und wenige nahe Ziele blieben. Eins davon war die Grünangergasse, wo nicht nur das Gasthaus "Zum grünen Anker" noch eine Weile seine Türen offen hielt und sein Besitzer die "U-Boote", die ihm in Verstecken in seiner Nähe bekannt waren, nicht nur mit den besten seiner Weinvorräte versorgte. Schräg gegenüber gab es statt der Rahmenhandlung, die später wieder auftauchte, einen Milchladen und täglich etwas dünne Milch, die blau schimmerte wie die Donau, wenn sie, selten, vereist war. Diese blaue Milch wird bis zuletzt eines der unerreichbaren Ziele bleiben, die jeder nötig hat. Und das stille Pflaster der Grünangergasse. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 11.1.2002)