Die Gültigkeit und Macht des Rechts hat sich in Österreich in das unbeschränkte Recht der Macht verwandelt. Der Verdacht auf Willkürherrschaft wurde seit Monaten geäußert und wird zur Gewissheit. Ohne Rücksicht auf heftigen Protest weiter Bevölkerungskreise (bis weit in die Reihen der ÖVP), Warnungen vor Verfassungsbruch, Bruch der Grund-und Menschenrechte, permanent schwere Wahlverluste einer Regierungspartei, werden Gesetze beschlossen und exekutiert. Österreich wird als demokratischer und sozialer Rechtsstaat mehr demontiert als reformiert. Die Macht der Regierenden und die Ohnmacht der Regierten scheint österreichische Selbstverständlichkeit geworden. Nicht nur das für eine demokratische Regierung nötige Vertrauen ist vermutlich nicht gegeben, sondern das Vertrauen in den Rechtsstaat steht in Frage, damit auch das Vertrauen in die Demokratie insgesamt. Die jüngste Entwicklung rund um den Verfassungsgerichtshof verstärkt diese Befürchtungen. Eine gefährliche Lage, die noch verschärft wird durch die internationale Situation, die eine stabile, verlässlich demokratische Regierung erfordern würde. Schon in den Anfängen der aufgeklärten Demokratie war klar, dass der Allmacht der Mehrheit bewusst entgegengearbeitet werden müsse. "Die Tyrannei der Gesetzgeber ist zur Stunde und wird noch auf Jahre hinaus die Gefahr sein, die wir am meisten zu fürchten haben." (Thomas Jefferson, 1789) Rechtsstaatlichkeit beschränkt sich nicht darauf, dass Gesetze (oder Regierungen) auf formal korrektem Weg zustande kommen. Schutz vor staatlichem Machtmissbrauch oder Willkürherrschaft bietet ein demokratischer Rechtsstaat durch die Gültigkeit u. a. folgender Prinzipien: Rechtsgleichheit, Garantie der Menschen- und demokratischen Grundrechte, Unabhängigkeit der Justiz, Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung, Bindung der Verwaltung an das Gesetz, Rechtssicherheit. Jedes einzelne dieser Prinzipien ist in Österreich gebrochen oder fraglich. Was gestern noch undenkbar schien oder von ÖVP-Politikern zurückgewiesen wurde, wird heute durchgesetzt (Integrationspakt, Hauptverband, geplantes Asylrecht). Während der Schutz vor staatlichem Machtmissbrauch in Österreich nicht mehr greift, sind auch die, die dies nicht wollen, der FPÖ ausgeliefert. Inzwischen ist der Bruch der vor dem Bundespräsidenten unterschriebenen Präambel in mehreren Punkten offensichtlich. Damit aber fällt eine wesentliche Voraussetzung der Anerkennung dieser Regierung weg. Die FPÖ treibt die ÖVP weiter vor sich her, bestimmt immer größere Teile der Regierungspolitik und baut ihre Machtpositionen in der Verwaltung aus. Der Wortbruch, der am Anfang der Regierungsbildung stand, ist inzwischen inhärenter Bestandteil des Schauspiels: Durchsetzung totalitärerer Intentionen der FPÖ. Das ist nicht in erster Linie eine moralische Frage, Volkssouveränität wird in der parlamentarischen Demokratie v. a. mittels Parteien ausgeübt; deren Verlässlichkeit (Wahlversprechen, Grundwerte etc.) ist daher fundamentales, wenn auch ungeschriebenes demokratisches Gesetz. Große Teile der Bevölkerung setzen bisher laute, deutliche, anhaltende Signale der Unzufriedenheit, des Misstrauens und des Protests, die ÖGB-Urabstimmung war das letzte davon - Zeichen einer verloren gegangenen Machtbalance, aber auch des Versuchs der aktiven Anteilnahme am politischen Leben. Die FPÖ braucht Zeit, um eine Änderung im Wählerverhalten herbeizuführen, setzt aber die in einer Demokratie mögliche Option von Neuwahlen als Faustpfand gegen Schüssel ein. Was wird bis Herbst 2003 alles neu deformiert sein? Vielleicht das passive Wahlrecht für Arbeitnehmervertreter, wie ja von Haider schon urgiert? Vielleicht dieses oder jenes Menschenrecht? Vielleicht der Glaube der Bevölkerung, dass ihre Stimme etwas wert ist, dass man in der Demokratie sich einmischen kann? Bleibt aktive Partizipation zu lange wirkungslos, wird mit Entmutigung, Resignation und Verunsicherung auch der Boden für entschlossene Führer und Schutzherren aufbereitet. Alarmsignale, dass das Vertrauen in das Parteiensystem insgesamt erschüttert ist, gibt es schon: "dramatische Veränderungen" im Vertrauen zur Arbeit aller Parteien stellte das Linzer market-Institut vor kurzem fest: "Die Österreicher sind mit der Arbeit der Parteien nicht zufrieden." Statt wirkungslos zu protestieren oder zum Scheitern verurteilte Misstrauensanträge im Parlament gegen einzelne Minister zu stellen, ist es sicher wichtig für die Opposition im Land, wirkungsvoll die neuerliche Überprüfung des Wählerwillens, also vorgezogene Neuwahlen, anzustreben und immer wieder massiv zu fordern. *Christine Recht ist Lehrerin und Mitarbeiterin von SOS Mitmensch. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 12./13.1.2002)