Wien - Das erste Wort, der Ausgangspunkt im Schreiben von Péter Nádas, war "Tod". Das zweite, um das der heutige Abend in der "Alten Schmiede" kreisen wird, ist "Ort": Im Tod die Auflösung des "Ich" - im "Ort" eine andere Auflösung, die des Einzelnen in das kollektive Bewusstsein eines Dorfes. Diese Auflösung und der Widerstand dagegen sind ein Grundthema jeder modernen, einer nicht regressiven Dorf-Literatur zwischen Göcsej (wo Nádas zeitweise lebt) und Ohlsdorf. "Ich habe nach dem Einmarsch der Russen in Prag 1968 eine völlig neue Ortsbestimmung meiner Existenz suchen müssen", sagt Nádas im Gespräch: "Journalist konnte ich nicht mehr werden, denn dort saß die Macht. Ich zog mich aufs Dorf zurück und begann mich dafür zu interessieren, was ein Kollektiv in Abhängigkeit hält. Und so las ich, nach einer Sigmund-Freud-Periode in Budapest davor, nun C. G. Jung, um das kollektive Unbewusste zu suchen." Aus politischem Interesse: Denn vormodernes Denken, wie es in Dörfern oft noch präsent ist - ein "wildes Denken" im Sinne von Lévi-Strauss-, hat politische Folgen. Diesen Zusammenhang arbeitet Nádas heraus. Hier ein Auszug aus dem Text, den Péter Nádas heute, Donnerstag, vortragen wird: "Auch das Hören und Sehen funktioniert im Dorf auf der Ebene des kollektiv Entpersönlichten. Es wird gemeinsam gehört und gesehen. Obwohl sie allen Fremden gegenüber maßlos misstrauisch sind, lassen sie jeden, der Anzug und Krawatte trägt und irgendein Papier vorweist, ohne Bedenken ins Haus." Die politische Folge davon: "Die Kenntnis dieser tiefsitzenden prämodernen Eigenschaften bringt uns der Einsicht näher, warum diese Region den tödlichen Versuchungen der europäischen Geschichte, dem Nationalsozialismus oder dem Bolschewismus, erlegen ist. Auf einmal taucht jemand auf, der, in Verfolgung seiner persönlichen Intentionen, im Namen eines kollektiven Bewusstseins spricht." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17. 1. 2002)
Mein eigener Tod (I)
Wer kann schon den eigenen Tod beschreiben? Niemand erlebt ihn, denn - so der Trostversuch Pascals - "ist er, so bin ich nicht, bin ich, ist er nicht". Und doch: Heute beginnt einer der wichtigsten europäischen Autoren, Péter Nádas aus Budapest, seine "Wiener Vorlesungen zur Literatur" mit einem Text über das eigene Sterben. Geplant war eigentlich, die beiden Vorlesungen (am Dienstag, und Donnerstag) in dieser Zeitung mit jeweils einem Text zu den Leitbegriffen der Vorlesungen - "Tod" am ersten Abend, "Ort" am zweiten - zu begleiten. Aber als ich Péter Nádas in einer windigen Gasse der Wiener Innenstadt nach den Erfahrungen, die in seinen heutigen Vortragstext Mein eigenes Sterben eingingen, fragte, da schockierte er mit seiner Antwort: "Eigene. Ich bin 1993 gestorben. Klinisch. Die Erfahrungen, die ich ohne die jetzige Anregung aus Wien nicht aufgeschrieben hätte, sind meine eigenen." Es sind die Erfahrungen von plötzlichem Weltverlust im Augenblick eines Herzinfarkts - verbunden mit einem Erlebnis größter Unendlichkeit: "So eine Ganzheitserfahrung wie im Tod macht man sonst nie im Leben. Auch nicht in der Literatur: Die beschäftigt sich oft mit körperlicher Sehnsucht, aber mit wenigen Ausnahmen nie mit der Erfahrung absoluter Ganzheit bei Tod oder Geburt", sagt Nádas. "Tolstoi hat so eine Beschreibung einmal geschafft", sagt er, "Dostojewski öfters." In seinem eigenen Text evoziert Nádas sogar die Wiederkehr offensichtlich pränataler Erinnerungen: "Ja, diese Schamlippen meiner Mutter, deren Öffnen im Geburtsmoment ich im Text beschreibe, die erlebte ich im Sterben wieder. Grenzenlose Geborgenheit. Und unendliche Neugier: Die Welt in ihrer Beschaffenheit zu ergründen." Und Probleme der Poetik dabei? - "Die Qual, dieses Verlassen des Glücks zu beschreiben. Das Problem: Die Intensität schreibend beizubehalten, aber eine kühle Beobachtung zu versuchen." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15. 1. 2002)
Péter Nádas, zur Vorstellung
Wird, wer 1942 in Budapest geboren wird und mit 16 Jahren schon Vollwaise ist, notwendig ein Dichter? Nicht notwendig, aber: Es ist einerseits - Budapest - die Erfahrung von Geschichte, anderseits fehlt - vaterlos - der Glaube an die Sinnhaftigkeit von überlieferten Systemen, von Gesetz, Familie, Staat. Aus solcher Abwesenheit heraus lässt sich die Leere füllen: Péter Nádas, der lange als Pressefotograf arbeitete, begann in einem riesigen Romanwerk seit den 70er-Jahren, Familie zu erfinden, Traditionen und Geschichte aus versunkener Erinnerung aufsteigen zu lassen: "Ende eines Familienromans" (1977) schilderte die stalinistische Phase in Ungarn aus Kinderperspektive, für sein "Buch der Erinnerung" (1991) erhielt er 1992 den österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. Seine Methode im Schreiben: Proust ("doch ist er auf Ungarisch schlecht übersetzt"), seine Methode im Leben: Unauffälligkeit - und das Staunen darüber, dass Maler seit Monet das Sichtbare in Tausenden Pinselstrichen denkend auffalten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14. 1. 2002)