Standard: Sie stellen in Ihrem Buch eine Reihe von Forderungen, was ein siebenjähriges Kind können sollte - unter anderem auch: lesen, schreiben; schreiben sogar in einer Geheimschrift; chinesische Zeichen geschrieben haben. Kommen Kinder eigentlich heute mit dem falschen Vorwissen in die Schule? Elschenbroich: "Falsches Wissen" würde ich nicht sagen. Aber der Zugang zu allem, was Schriftlich ist, ist extrem wichtig. Und da läuft vieles schief. Bei uns in Deutschland und auch in Österreich ist das Vermitteln von Schrift ein Monopol der Schule. Standard: Sie geben als Gegenbeispiel Japan. Dort hat die Beschäftigung mit Kindern - die Beschäftigung mit Bildung - einen viel höheren gesellschaftlichen Wert als bei uns, wo das Prestige von Lehrern oder gar das von Müttern, die bei ihren Kindern sind, geringer ist. Elschenbroich: Das entspricht der konfuzianischen Tradition, dass Bildung etwas Gutes, Ehrenwertes ist. Aber Sie müssen gar nicht bis Japan gehen. Auch die jüdische Kultur ist eine Schriftkultur. Und auch in den skandinavischen Ländern, die in der Pisa-Studie so gut abschneiden, wird die Schriftkultur höher geschätzt als bei uns. Es ist wichtig, dass Kinder früh das Lesen lernen - Schrift verschafft Zugang zur Gesellschaft, da wollen Kinder nicht ausgeschlossen sein. Das Erschütternde an den Pisa-Ergebnissen in Deutschland ist, dass die getesteten Fünfzehnjährigen zwar gerade noch lesen können, das Gelesene aber nicht richtig verstehen, sie bringen ihre sonstige Intelligenz dazu in kein persönliches Verhältnis. Das hat Wurzeln in der frühen Kindheit. Standard: Bei uns hört man oft: "Das lernen sie noch früh genug. Kinder brauchen eine unbeschwerte Kindheit." Elschenbroich: "Unbeschwert" - dahinter steckt ein Verständnis, das Lernen als etwas Unangenehmes sieht. Kinder empfinden das aber anders. Zweijährige interessieren sich doch, was das heißt, was irgendwo geschrieben steht, sie entziffern Nummernschilder von Autos. Es ist wichtig, dass man früh eine Beziehung mit dieser Zeichenwelt aufbaut - weil man dann mehr Weltvertrauen bekommt. Die Gehirnforschung hat ja gezeigt, dass das Lernen Botenstoffe freisetzt, die angenehm sind - der Mensch will Probleme lösen, das Lernen ist mit Befriedigung verbunden. Das beginnt beim Säugling, der länger bei der Sache bleibt, wenn er mit seinen Füßen ein Mobile in Bewegung setzen kann, als wenn das jemand anderer für ihn vor-spielt. Man muss mit einem optimistischeren Bild des menschlichen Wissens an die Kinder herangehen. Standard: Sie sagen, "man muss" - das bezieht sich konkret auf die Eltern? Elschenbroich: Die Eltern sind enorm wichtig, sie sind die primären Bildungsbegleiter ihrer Kinder. Aber man kann auch nicht alles von ihnen erwarten. Die öffentliche Verantwortung, wie sie sich in Kindergärten ausdrückt, muss einfach auf ein höheres Niveau gebracht werden. Dass Österreich in der Pisa- Studie besser abschneidet, kann ich mir unter anderem dadurch erklären, dass der Zugang etwa zur Musik mehr gepflegt und aktiver ermutigt wird als in Deutschland. In Wien gehen Schulgruppen und Kindergärten in die Konzerthäuser - und man merkt, dass solche Aktivität nicht in den Ofen geschossen ist. Standard: Zum Musizieren, zum Lernen überhaupt gehört auch das Wiederholen. In Ihrem Buch verweisen Sie auf das japanische Unterrichtsmodell, wo viel wiederholt und geübt wird - im Gegensatz zur amerikanischen Idee, nach der Lehrer Entertainer sein müssten. Elschenbroich: Sicher gibt es geistloses, redundantes Wiederholen von Mustern, wo man mit Recht sagen kann: Das ist Zeitverschwendung. Andererseits muss man einmal den Kindern zuschauen, wie gerne sie selber üben. Wie sie immer wieder ein neu gelerntes Wort in verschiedene Kontexte einflechten wollen. Diese Mechanismen des Aneignens durch Wiederholung haben Berechtigung - japanische Erwachsene sehen viel weniger das Problem, dass Schüler sich langweilen. Das wird als etwas Beruhigendes, etwas Verankerndes gesehen. Da muss man eben intelligente Techniken des Übens entwickeln. Aber Kinder sperren sich meiner Erfahrung nach nicht dagegen. Standard: Dazu müsste man aber sehr früh anfangen zu üben. Elschenbroich: Die üben schon selbst. Man kann ihnen helfen, sich dessen bewusst zu werden; sie bestätigen, wenn sie erfolgreich waren. Standard: Und man sollte sie dazu ermutigen, Zeichen, Schriften zu kennen und zu schreiben? Elschenbroich: Ja, aber nicht im Sinn von abstraktem Üben, sondern im Zusammenhang mit einem kommunikativen Sinn: eine Einkaufsliste oder einen Wunschzettel schreiben oder eine Botschaft an eine Freundin. Standard: Sie fordern in Ihrem Buch sogar, dass das in einer Geheimschrift geschrieben werden kann. Von einem Kind, das noch nicht einmal in die Schule geht? Elschenbroich: (lacht) Ja, ja. Kinder sind ganz fasziniert von diesen Geheimschriften. Man darf Kinder nicht unterschätzen. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.1.2002)